Abstieg ins Unbewußte
21. Februar 1967
Werner Zurfluh
e-mail: Homepage Glossar

21.2.1967
Im vollen Bewußtsein der Tatsache, inmitten eines Traumgeschehen zu sein, besteige ich einen wunderbaren schwarzen Andalusier. Das ungesattelte Pferd gehorcht auf bloßes Zureden und sanften Schenkeldruck. Als mein Freund und Vertrauter braucht der Hengst weder Zaumzeug noch Zügel! Also sind weder Lattenzäune noch Drahtverhaue Hindernisse. Sie werden alle übersprungen. Der letzte Zaun ist der höchste und gefährlichste, denn der Rappe kann den feinen Draht zwischen den Pfosten nicht sehen und bedarf deswegen meiner Hilfen! Jenseits all dieser Einzäunungen und Abgrenzungen beginnt der dunkle Wald, dessen Dichte dem Roß kein Durchkommen erlaubt, weshalb ich absteige und zu Fuß weitergehe.

Endlich finde ich eine winzige Lücke im undurchdringlichen Buschwerk, muß mich aber zwischen den Ästen mit großer Mühe hindurchzwängen, um auf den Weg zu gelangen, der sich gewunden zwischen dem dichten Unterholz den steilen Abhang hinunterzieht. Der Schlackenweg ist nicht der beste. Die Gefahr, auszugleiten, ist enorm. Doch endlich habe ich Fels unter den Füßen. Nun ist es ein Vergnügen, auf dem Granitpfad weiterzulaufen. - Bereits beim Eindringen in den Wald sagte ich mir - eingedenk der Symbolik bzw. der Schriften von C.G. Jung -, daß es jetzt ins Unbewußte gehe.

Der Wald lichtet sich, die Bäume sind größer und mächtiger. An einer Felswand entlang geht es weiter hinab. Andauernd wende ich die Jungsche Psychologie bzw. deren Auffassungen an, z.B. beim Betrachten eines besonders imposanten Baumes. - Eine herrliche Gegend hier! - Der Granitfels zu meiner Rechten ist mittlerweile so hoch, daß die obere Felskante nicht mehr zu sehen ist. Sinnend bleibe ich stehen:
"Wie weit oben muß jetzt das Bewußtsein sein, daß mich eine solch hohe senkrechte Wand von ihm trennt!"

Und weiter führt der Felsweg in die Tiefe. Ohne Furcht gehe ich auf ihm. Der Wald wird immer lichter. Nach einem schwachen Knicks nach links, stürzt der Pfad regelrecht über ein kurzes, überaus steiles Stück hinunter in ein etwa hundert Meter breites ausgetrocknetes Flußbett, in dessen Mitte zwischen dem Geröll ein größerer Bach fließt.

Ich trete auf die steinige Ebene hinaus und springe und klettere von Stein zu Stein. Es ist ein wenig kälter geworden, weshalb es mich fröstelt. Die Steine im Flußbett sind mit einer dünnen Schneeschicht überzogen. Beim Herumsteigen achte ich auf den Lauf des Baches und sehe, daß er aus den viele Kilometer weit entfernten Bergen kommt und rechterhand nach etwa 200 Metern in ein Meer mündet.

In Gedanken laufe ich weiter und erreiche nach wenigen Minuten den etwa fünf Meter breiten Bach - und erstarre vor Schreck. - Ein riesiger, schrecklich aussehender Gorilla watet vom Meer her im Bach zu mir herauf. Ich habe Angst und bleibe stehen! Der Affe baut sich bald einmal auf gleicher Höhe mir gegenüber auf und blickt mich stechend an.
"Der will mir den Weg über das Wasser abschneiden! Nun ist es zu Ende mit dem Eindringen ins Unbewußte."

Hinter dem Gorilla ist ein dunkler Schatten im Bach zu sehen.
"Ein Krokodil, das mich unter Wasser angreifen will!"
Vor Schreck bin ich beinahe gelähmt und nahe daran, dem alptraumartigen Geschehen zu entfliehen und im Bett zu erwachen. Doch trotz meiner großen Angst gehe ich in den Bach hinein, weil ich den Bachlauf unbedingt durchqueren will, um weiter in das Unerforschte einzudringen. Dabei erinnere ich mich an das kleine Kreuz am Kettchen um den Hals. Ich greife danach, nehme es zwischen die Finger und strecke es dem Gorilla und dem Krokodil entgegen. Der Gorilla bleibt stehen und macht keine weiteren Anstalten, mich anzugreifen. Überraschenderweise weicht er vor dem Kreuz nicht zurück! So bin ich gezwungen, das Untier zu umgehen.

Mit einem Auge schaue ich sehr aufmerksam zum Affen und gehe dabei weiter durchs Wasser gegen das Meer zu. Wie ich mich endlich davon überzeugt habe, daß das Tier keine Anstalten macht, mich zu verfolgen, konzentriere ich mich ganz auf den Bachlauf. Das Krokodil habe ich total vergessen.

Was sehe ich da! - Beinahe wäre ich auf einen gräßlich aussehenden "Fladen" getreten, der aussieht wie eine Flunder und auf dem Bachgrund dahinschwimmt. Kaum habe ich mich von meinem Schrecken erholt, erkenne ich, daß noch viele dieser scheußlichen Tiere sich im Wasser befinden. Sie alle kommen vom Meer herauf geschwommen. Vor lauter flachen Fischen läßt sich an der Mündung vorne nicht einmal mehr der Bachgrund sehen. Die Flundern sind an der Uferzone des Baches bereits derart häufig, daß ich gezwungen bin, noch weiter gegen das Meer zu in der Mitte des Laufes, der noch frei von diesen Tieren ist, zu waten. Aber auch diese Mitte ist schon bald von den scheußlichen Viechern belebt. Immer wieder trete ich beinahe auf einen Fisch. Doch mit der Zeit sehe ich ein, daß mir keine andere Wahl bleibt, als auf diese Tiere zu treten, wenn ich auf die andere Seite hinüber will. Also überwinde ich zögernd meine Abscheu und meinen Ekel und setzte meinen Fuß auf eines der gräßlichen Dinger. Kaum habe ich das getan, stehe ich auch schon am anderen Ufer.

Ohne mich umzublicken geht es weiter - über die Steine des Bachbettes einer Grasfläche zu, die sich bis ins Unendliche auszudehnen scheint. Zuerst muß eine gut ein Meter hohe Böschung überklettert werden, erst dann ist ein schmaler Gang zu sehen, der in die Erde hinunter führt.
"Soll es hier noch weiter in die Tiefen des Unbewußten hineingehen?"
Um dorthin und damit wahrscheinlich zum Ziel meiner abenteuerlichen Fahrt zu gelangen, werde ich den finsteren Gang wohl oder übel betreten müssen. Ich sage mir, daß am anderen Ende des Ganges bestimmt wieder Licht sein wird, wundere mich allerdings sehr, daß hier noch ein drittes Symbol für das 'eigentliche' Unbewußte auftritt - nach dem Wald und dem Meer -, nämlich die Höhle - und gehe mutig in den Gang hinein.

Es ist wirklich stockdunkel da drinnen, nicht das Geringste ist zu sehen. Zudem ist die in die Tiefe führende Höhle derart eng, daß ich trotz angelegter Arme beinahe die Wände berühre. Erstaunlich hoch ist sie - wie ein Erdspalt. Beim Absteigen glaube ich andauernd einfach stark daran, daß am anderen Ende wieder Licht sein wird und gehe deshalb - trotz beklemmender Angst - weiter.

Nach einer guten Weile ist im höhlenartigen Gang unvermutet eine leichte Linksbiegung zu ertasten. Und kaum bin ich um die Ecke geschritten, wird es - zu meiner großen Erleichterung - hell. Kurz danach ist der Gang zu Ende. Genau an dieser Stelle erwartet mich eine junge, hübsche Frau, die mich liebevoll umarmt und sagt:
"Ich bin sehr erfreut, dich hier unten zu sehen!"

Ich schaue mich um. Hier befindet sich tief unter der Erdoberfläche eine schöne Behausung mit Küche, Schlafraum, Wohnzimmer und weiteren, nicht mittels Tür voneinander abgetrennten Räumen - insgesamt vier oder fünf sind es, alle auf einer Ebene. Die Frau und ich setzen uns auf ein Sofa, umarmen uns nochmals und küssen uns dabei. Ein kleiner Knabe tollt umher, bleibt für einen Augenblick stehen und begrüßt mich freundlich. Auch eine ältere Frau und ein älterer Mann nebst anderen Leuten sind da. Sie alle freuen sich offensichtlich sehr, mich hier zu sehen.

Irgendwie glaube ich ganz genau zu wissen, daß diese Menschen hier alles Teile von mir sind, d.h. daß wir alle zusammen eben das umfassende ICH , d.h. die Totalität von Bewußtsein, welches ich selber verkörpere, und Unbewußtem sind.

Die schöne Frau mit den blonden Haaren plaudert eine Weile, nachdem wir in einen anderen Raum gegangen sind, um alleine zu sein. Ich denke, daß sie meine Anima sei. Doch effektiv ist sie sowohl meine Frau Cathy als auch meine Anima. Wir küssen und lieben uns. - Später kommen auch die anderen, die doch alle - wie ich meine - zu mir gehören. Ein unbeschreibliches Einheitsgefühl durchflutet mich, und ein absolut und total scheinendes Gefühl des Friedens hält mich umfangen.

Nach einer Weile gehen wir alle zusammen ins Wohnzimmer und diskutieren angeregt. Manche der mir noch unbekannten Gestalten stellen sich selbst vor, manchen gebe ich einen Namen, speziell jenen, die sich nicht vorstellen wollen. Der kleine Junge von vorhin nennt sich "Progression" und sagt: "Ich bin deine Progression." Einer der alten Männer stellt sich als meine "Regression" vor. Der zweite alte Mann, ein Greis, der mir sehr weise und mir hoch überlegen vorkommt, sagt, was er sei. Ich bin mir nicht sicher, ob er sich selbst als 'das Selbst' bezeichnet. Ich aber sage zu ihm:
"Leider kann ich dich nicht verstehen, da ich noch zu jung bin. Aber mit der Zeit, wenn ich älter geworden, werden wir uns bestimmt ausgezeichnet verstehen."
Der Angesprochene zieht sich daraufhin unauffällig zurück - ohne deswegen irgend jemanden zu kränken oder selbst gekränkt zu sein.

Auf den Polsterstühlen sitzend und schwatzend frage ich meine vermeintlichen Teile:
"Wie fühlt ihr euch da unten, abgespalten von mir, dem Bewußtsein? Wir müßten doch eigentlich eine Einheit bilden. - Wie ist es denn, mit solch einem Dummkopf, wie ich einer bin, zusammenleben zu müssen?"
Lachend und schmunzelnd antworten sie:
"Es ist nicht so schlimm!"

Noch viele Dinge kommen zur Sprache. Nur werden leider nur sehr wenige Fragen beantwortet. Und wenn etwas beantwortet wird, geschieht dies in einer Sprache, die ich nicht wiederzugeben vermag. Allein schon dies genügt, um es mich wieder vergessen zu lassen. Zum Teil stelle ich Fragen, die mir sehr wichtig scheinen - beispielsweise über Gott. - Schließlich gebe ich es auf.

Nach all dem scheint es mir nun von größter Bedeutung zu sein, daß wir uns gegenseitig nackt sehen können, weshalb ich sage:
"Alle entkleiden sich jetzt vollständig!"
Meine Anordnung wird allgemein befolgt. Nur einer der Anwesenden weigert sich, meiner Aufforderung nachzukommen. Ich gehe zu ihm hinüber und frage nach dem Grund seiner Weigerung, sich auszuziehen. Er antwortet:
"Ich schäme mich!"
"Du brauchst dich nicht zu schämen, wir sind doch alle nur ein Einziger!"
Daraufhin legt auch er seine Kleider ab. Nun zeigt es sich, weshalb er sich nicht entkleiden wollte. Er/sie ist nämlich ein mannweibliches Wesen, ein Hermaphrodit!
"Einer von uns muß ja ein Hermaphrodit sein, sonst wären wir nicht ein Ganzes", stelle ich fest.
Damit ist die Sache erledigt.

Nun liegen auf dem kleinen, braunen Tisch, der zwischen den Polstergruppen steht, viele Speisen auf einem Haufen. Mir obliegt es, die Nahrungsmittel zu verteilen, wobei ich intuitiv ganz genau weiß, wem ich was und wieviel zu geben habe. Nachdem alle ihren Teil erhalten haben, gehe ich wieder zu meiner Frau. Wir lehnen uns gemütlich zurück und nehmen ein paar Früchte von unserem gemeinsamen Haufen, welcher der üppigste von allen scheint. Die Eßwaren bestehen aus Früchten von roter, blauer und gelber Farbe - nebst dem obligaten Grün.

Uns alle umfängt nach wie vor umfassendster Friede und tiefste Geborgenheit!

Textanfang

Konvertierung zu HTML April 1996
Homepage: http://www.oobe.ch
e-mail: werner.zurfluh@oobe.ch
©Werner Zurfluh