Die Gräber
Werner Zurfluh
e-mail: Homepage Glossar

Seit 1965 schreibe ich mehr oder weniger regelmäßig das Geschehen auf, das sich des Nachts im Schlaf ereignet. So weit ich mich zurückerinnern kann, waren die Träume meistens luzid, und es kam zudem spontan immer wieder zu sogenannten außerkörperlichen Erfahrungen. Letztere zeichnen sich dadurch aus, daß in der hypnagogischen Phase, d.h. beim Wechsel vom Wach- in den Schlafzustand des physischen Körpers, das Ich-Bewußtsein ununterbrochen erhalten bleibt. Mit dem Vorhandensein bzw. der Beibehaltung der emotionalen und kognitiven Funktionen des Ich ist die Kontinuität des Ich-Bewußtseins vorhanden. Es gibt keinen Unterbruch der Bewußtheit beim Einschlafen. Dies im Gegensatz zu einem luziden Traum, in dem bis zum "Erwachen des Ich" - der eigentlichen Bewußtwerdung während des Traumgeschehens - eine mehr oder weniger ausgedehnte Zeitspanne liegt. Das alles mag etwas seltsam tönen, denn es widerspricht der gewohnten Sprechweise, bei der Ich und Körper andauernd als identisch aufgefaßt werden. Aber es ist wie beim Reiten auf einem Pferd. Zwar besteht (bzw. sollte bestehen) eine totale Einheit, aber dennoch keine Identität.

Um das Jahr 1974 herum kam es im Verlauf der schulanalytischen Ausbildung am Jung-Institut wegen meines Insistierens auf der Möglichkeit der Bewußtwerdung innerhalb eines Traumes zu ziemlich großen Schwierigkeiten mit einigen Jungianern und schließlich zum Abbruch der Ausbildung zum Psychotherapeuten. Erschwerend kam dazu die außerkörperliche Erfahrung, die überhaupt nicht in das Konzept der Komplexen Psychologie paßte. Weshalb dem so ist, habe ich in den "Quellen der Nacht" (Ansata, (1983) 3. Aufl. 1996) beschrieben.

Selbstverständlich hat es etliche Träume zu Fragenkomplex "Jung-Institut und luzides Träumen" gegeben, u.a. den folgenden vom 21. Januar 1974. Das nunmehr erzählte Geschehen ist für mich geradezu ein Markstein auf der Schwelle zwischen der Jungianischen Auffassung und meinen Forschungen auf dem Gebiet des luziden Träumens und der Außerkörperlichkeit gewesen.

Landschaftlich gesehen erinnert mich die Gegend an Arosa, speziell an das kleine Wäldchen links des Hubelplatzes, wo früher im Sommer in einem kleinen Pavillon musiziert wurde.

Da hocke ich mit drei oder vier Männern auf einem etwa zehn Meter hohen Felsen von grauer Farbe, von welchem wir hinunterklettern möchten. Aber wir können keine Abstiegsmöglichkeit entdecken. Erst bei genauerem Hinsehen erkenne ich eine Rinne, die offensichtlich vor urvordenklichen Zeiten in das Gestein eingeschlagen wurde - zu dem Zweck, den Fels mühelos besteigen zu können. Wir fassen neuen Mut. Doch in den Jahrhunderten, ja Jahrtausenden, die seit der Einkerbung vergangen sind, ist die Rinne vom Wasser total ausgespült und vom Wind verwischt worden - und deshalb kaum mehr zu erkennen.

Schließlich rutsche ich als erster die "Rinne" hinunter und steige über beinahe völlig abgetretene Treppenstufen bis auf das eigentliche Felsplateau hinab, laufe bis zu dessen Rand und springe etwa 1,5 Meter hinunter auf den mit Tannennadeln bedeckten Erdboden. Nach dem Umdrehen stelle ich mit großem Erstaunen fest, daß unter der auf natürlichen Pfeilern aufliegenden Felsplatte eine Aushöhlung besteht, in der viele Grabsteine stehen. Diese sind zu mindestens zwei Dritteln in die Erde eingesenkt und markieren Gräber, die sehr alt scheinen - zum Teil mehrere hundert Jahre. Die neueren könnten um die Jahrhundertwende erstellt worden sein, denn die Grabsteine sind noch kaum von Flechten und Moosen überzogen.

Dieser luzide Traum veranlasste mich damals - also 1974 - zu folgenden Überlegungen:

Ganz allgemein lässt sich feststellen, daß der Mutterkomplex bzw. das Reich des Mütterlichen angesprochen ist, gleichzeitig auch die früheste Jugend. Arosa ist nämlich das Dorf meiner Mutter, aber auch - für mich - eine Welt jenseits des Alltäglichen. Da lebte ich vom 1. bis zum 4. Lebensjahr (und definitiv wiederum sei 1997) und während etlicher Ferienwochen. In meiner Kindheit spielte der Ort "Hubelplatz" ein ganz zentrale Rolle, denn er war und ist mit einer ganz besonderen Atmosphäre verbunden. Hierzu folgendes:

Ich komme im Alter von etwa drei bis vier Jahren als kleiner Knirps bei einer meiner (unerlaubten) "Ausflugsreisen" vom elterlichen Haus, in dem auch die Großeltern leben, zum Wäldchen herunter. Schon der Weg zum gut 100 Meter entfernt liegenden Hubelplatz ist abseits der normalen Wege und sehr gefährlich (aus der Sicht des Kindes). Gleichzeitig ist er auch düster und von allerlei dickblättrigen, dunkelgrünen Pflanzen überwuchert, so daß ich mich manchmal im Sommer kaum durch das Gewirr durchzwängen kann - derart hoch sind die Gewächse (ca. 40 cm). Deswegen ist es schon ein Abenteuer, diesen Weg zum Platz hinunter zu nehmen, einen Weg, den ich niemals mit einem Erwachsenen gegangen bin.

Zuerst geht es eine lange, scheinbar glitschige und mir von Besuchen in der Werkstatt her bekannten Holztreppe zur Schreinerei hinunter, wo mein Vater arbeitet. Dann aber beginnt das Neuland, und es gilt, vorsichtig von der Bretterlage des Zugangsweges zur Werkstatt abzusteigen - immerhin etwa 30-50 Zentimeter Höhendifferenz. Dann bin ich auch schon im Niemandsland von etwa 3-4 Metern Breite, das sich wie eine Schlucht zwischen der Schreinerei und einer hohen Mauer befindet, welche die Jugendherberge (die ehemalige katholische Kirche) als Grundstück von der Schreinerei-Zimmerei abgrenzt.

Nach etwa zwanzig Metern kommt ein recht steil abfallendes Stück, wo Wurzeln und Steine gefährlich aus dem Erdreich ragen. Sind diese erst einmal überwunden, ist die weglose Strecke zwischen den Gebäuden endlich geschafft. Nun muss nur noch möglichst rasch ein schmaler Zugangsweg überquert werden, der zu einem Haus führt, dessen Bewohner ich nicht kenne - obwohl sie gerade unterhalb von uns leben. Von dem Stockwerk, in dem ich im Nachbarhaus oben wohne, kann ich immer nur das Dach und das Fenster des obersten Stockwerkes des unteren Hauses sehen. Die Bewohner selber habe ich noch niemals gesehen. Deshalb ist mir das Haus auch nicht geheuer, denn wer weiß, ob da nicht Hexen oder sonstige böse Leute drinnen sind, die nur nicht wagen, tagsüber ihr Gebäude zu verlassen. Diese Angelegenheit ist mir jedoch relativ unwichtig und bedarf eigentlich auch nicht besonderer Untersuchungen. Das Haus ist nämlich viel zu schäbig, als daß es wirklich ein Hexenhaus hätte sein können. Es scheint mir jedoch sicherer, das fremde Gebiet schnellstmöglich zu durchqueren.

Wesentlich interessanter ist das Wäldchen auf der anderen Seite der weiter unten gelegenen Strasse am Rande des Platzes. Dieses Wäldchen ist für mich die eigentliche Eingangspforte in den dunklen, düsteren Wald, also in das Hexenreich als solches. Das weiß ich bereits, nicht nur von den Märchenerzählungen her, sondern auch von einer überaus gefährlichen früheren Exkursion. Denn hinter dem Hügel wohnt tatsächlich eine Hexe. Ihr Haus hatte ich entdeckt - auch den Stoß Brennholz ganz in der Nähe des kleinen Gebäudes Aber der Holzstoß war doch so weit vom Haus entfernt, daß bis jetzt niemand den Zusammenhang zu entdecken vermochte. Dieses Geheimnis hatte ich auf einer sehr abenteuerlichen Suche gelüftet, bei der ich mich beinahe verirrt hatte. Aber ich darf niemandem davon erzählen, weil die Hexe dann sofort herausfinden könnte, daß ich sie durchschaut habe. Das wäre äußerst gefährlich - sie würde mich suchen und finden.

Erst Jahre später fand ich heraus, daß es sich um das Waschhaus eines Hotels gehandelt hat. Es war gute 200 Meter von meinem Wohnort entfernt. Ich sehe jetzt noch meinen Vater am oberen Ende der langen Holztreppe stehen, die hinten zum Holzschopf hinaufführt. Die Schnürsenkel meiner Finken (!) baumeln lose herunter, denn ich weiß nicht, wie sie zu binden sind. Aufgrund der enorm weiten Strecke und vor allem des Umweges, den ich zu gehen hatte, ist meine Verspätung ungewöhnlich. Mutter und Vater müssen in größter Sorge sein. Eigentlich bin ich froh, der Hexe entkommen zu sein, auch wenn ich schwierigstes und mir völlig unbekanntes Gelände zu queren hatte und mich vor lauter Aufregung und panischer Angst beinahe verirrt habe. Deshalb freue ich mich, meinen Vater zu sehen. Oben angekommen, erkenne ich, daß Vater sehr wütend ist. Er nimmt einen Riemen hinter seinem Rücken hervor und verabreicht mir eine gehörige Tracht Prügel. Was würde er tun, wenn er von der Hexe wüßte ? Es scheint mir klüger, nichts zu erzählen und kein Sterbenswörtchen verlauten zu lassen !

Aber eben, das kleine Wäldchen ganz in der Nähe - kaum 150 Meter vom elterlichen Haus entfernt - ist ein faszinierender, märchenhafter Ort - und er ist weit weg vom Hexenhaus ! Da gibt es die wunderbarsten Dinge zu entdecken. Ich kann in diesem Wald, der sich über einen Hügel von etwa 10 bis 30 Metern Höhe erstreckt, einfach alles finden: geheimnisvolle Höhlen hinter Büschen; Felsklüfte und -durchgänge; Löcher und Wurzelgeflechte; Steilabhänge; fast undurchdringliche Buschzonen; mit alten Steinplatten ausgelegte Wege, von denen die meisten mit einer Schicht von Tannennadeln bedeckt sind; unzählige, verstreut gewachsene Bäume, die den Eindruck machen, als sei hier ein vergessener Märchenwald. Und bis zum heutigen Tag habe ich kaum jemals einen Ort wie diesen kennengelernt, an dem derart verschiedene Landschaftstypen auf kleinstem Raum vereinigt sind.

Und dann hat es hier vor allem Felsen ! Felsen und nochmals Felsen. Von den kleinsten bis zu den mächtigsten Einzelbrocken, die schier unüberwindlich fest aufragen. Auch eine Steilwand gibt es. Sie hat mir manch harte Nuss zu knacken gegeben. Aber - mit der Zeit - wurde es mir möglich, alle Felsen von allen nur möglichen Seiten zu erklettern. Das hatte zur Folge, daß bei allen Fangspielen mich niemals jemand erwischen konnte. Ich kannte nämlich alle nur möglichen Schleichwege, Verstecke, Geheimdurchgänge und Schlupflöcher. Besser als sonst jemand. Auch später, in den Ferien, wenn ich jeweils - was selten genug vorkam - mit Einheimischen hier herumtollte.

Immer habe ich am liebsten ganz alleine für mich gespielt und ging auch auf Entdeckungsreisen. Später wanderte ich dann in die Isla hinunter, wo sich in größerem Maßstab etwa dasselbe wiederfand. Und noch später wanderte ich in den umliegenden Bergen - immer alleine und stets ohne Karte. Ich konnte mich auf meinen Orientierungssinn verlassen und verirrte mich niemals.

So stellt der im Traum angesprochene Ort den eigentlichen Ausgangspunkt meiner "einsamen" Entdeckungsreisen dar. Zu diesen Entdeckungsreisen gehört auch die Erforschung der luziden Träume und der Außerkörperlichkeit. Und sollten damals in meiner Kindheit und Jugendzeit manchmal doch Kollegen mit dabei gewesen sein - was selten genug vorkam -, fand ich neue, "unbekannte" Dinge, welche die anderen übersehen oder nicht bemerkt hatten, z.B. Höhlen und Schluchten oder Aufstiegsmöglichkeiten auf unbezwingbar scheinende Felsen und Türme.

Dieser Ort, der Hubelplatz, hat aber noch etwas anderes an sich. Er war mir stets unheimlich, denn er war eine eigentliche Grenzzone zwischen meinem häuslichen Bereich und dem Bereich des Einzelgängers in einem Reich, das niemand außer mir zu kennen schien und dessen Geheimnisse ich als einziger zu sehen vermochte. An dieser Stelle betrat ich also bereits als kleines Kind ein Jenseitsreich - und an dieser Stelle mußte ich auch wieder aus der Anderwelt hinaus- und in den Alltag hineingehen - in eine Welt hinein, in der Vater und Mutter, Großvater und Großmutter, Onkel und Tanten lebten. Die "diesseitige" Alltagswelt hat mir als "Schauplatz" niemals etwas bedeutet, denn das andere Reich war das einzig wirklich Interessante. Dort herrschten nämlich andere Gesetze und andere Zeitvorstellungen. Und dort konnte ich auch den Tieren nahe sein, so nahe, daß sie sich beinahe mit Händen berühren ließen. Vor allem die Rehe, denn diese waren im Winter oft im Wäldchen anzutreffen und wurden von mir überrascht !

In diesem Durchgangsbereich schien die Sonne fast nie, weshalb es ziemlich feucht war. Und es hatte da auch eine interessante Felsgruppe, die für mich die "Wohnung des Fuchses" war, weil sie in sich eine Art von Fuchsbau beherbergte, eine Höhle, in der später viele Abfälle deponiert worden sind - später, als wesentlich mehr Leute diesen Ort aufgesucht haben. Ich war ziemlich oft bei diesem Felsen. Er diente gewissermaßen als eine erste Zwischenstation, als Schwelle zwischen dem Hüben und dem Drüben. Hier übte ich vor allem das Klettern am Fels. Diese Felsgruppe war der erste markante Punkt im bzw. am Rande des Märchenreiches, wenn ich auf direktesten Weg von der Alltagswelt hierher kam. Eine düstere "Burg" war es - aber eben die eine Eingangspforte in das jenseitige Reich. Von hier aus konnte ich einen letzten Blick in die gewohnte Welt tun, aber auch schon den Kamm jenes "Gebirges" sehen, auf dessen anderer Seite das weite Reich der Abenteuer auf mich wartete.

Die Zone "Hubelplatz" ist somit eine eigentliche Übergangszone in das "ganz andere Reich", in eine "Anderwelt", welche mit der Welt der Eltern und Großeltern überhaupt nichts mehr zu tun hatte.

Merkwürdig ist nun im Traum die Aussage, daß in dieser inneren Übergangszone Gräber der Ahnen liegen ! Der Grabraum ist vielleicht eine Art Schattenzone meiner Familie und sogar der Gesellschaft. Es ist jedenfalls ein Gebiet, das nicht mehr beachtet oder sogar tunlichst gemieden wird. In diesem Bereich habe ich mich im Traum auf einem Felsen verstiegen und finde kaum mehr herunter.

Dieser Fels erweist sich als ein Hemmnis, das sich an einem Ort befindet, der von mir bislang als eigentliches Hindernis überhaupt nicht erkannt worden ist. Tatsächlich handelt es sich um eine Schwelle, die seit Generationen nicht mehr überschritten werden konnte. Aber früher ging man offensichtlich noch oft auf diesen Fels, und man war sich der Übergangszone zwischen dem Diesseits und dem Jenseits bewußt. Es wurde vielleicht sogar auf eben diesem Felsen in der düsteren Zone des Zwielichtes Opfergaben dargebracht. Der Platz liegt an einer Stelle, wo Rehe und andere Tiere des Waldes ganz nahe an menschliche Behausungen herankommen. In dieser Zone kommt - tiefenpsychologisch gesprochen - die Instinktsphäre bzw. das "Unbewußte" ganz nahe an die gewohnten Bewußtseinsstrukturen heran. Es handelt sich somit um einen Komplexbereich, und der wird durch die Felsgruppe markiert - und zwar so, als würde sich hier alles verdichten bzw. verfestigen und konkretisieren. Deswegen wird dies ein Ort sein, an dem das Ich steckenbleiben kann, weil es z.B. identisch ist mit einem alten Familienerbe oder weil es gewisse Dinge nicht kennt und erkennt, die in den Gräbern verborgen sind !

Seit Generationen wurde dieser abgeschiedene Ort gemieden und mit einer geheimnisvollen Gefühlssphäre umgeben. Statt eine Auseinandersetzung zu wagen, ist man der in Frage stehenden Sache ausgewichen. Die Kirchen und das Dorfleben spielen sich genau auf der anderen Seite ab. Hier im Wäldchen - genauer gesagt auf dessen Sonnenseite - ist bestenfalls noch ein Musikpavillon für den Spaziergänger am Sonntagmorgen.

Heute, d.h. 1999, ist übrigens alles verwildert und überwuchert, der Pavillon zerfällt und niemand benutzt den Platz mehr ! Früher wurde dieser Ort noch ganz unverbindlich benutzt, jedoch nur bei Sonnenschein und die meiste Zeit war niemand hier. Die Leute gehen an diesem Ort nach wie vor vorbei und werfen bestenfalls ihren Abfall hinein. Nur Fremde, d.h. Touristen, sind früher an Werktagen auf den kleinen Bänken auf der Sonnenseite anzutreffen gewesen - selbstverständlich niemals auf der schattigen Seite, wo der Traum den Ort angesetzt hat.

Im Traum entdecke ich schließlich doch noch eine Möglichkeit des Abstieges, bzw. eine Möglichkeit, die Isolation und Ausgrenzung aufzuheben. Es sind nämlich uralte Spuren vorhanden, Spuren, die beinahe schon verwischt sind. Dies weist auf archaische Verhaltensmuster hin, auf Denkweisen, die eng mit den jenseitigen Bereichen verbunden sind. Diese sind wieder zu beleben, und es gilt, sich ihnen vertrauensvoll zu überlassen. Nur so kann der Mensch von der Isolierung des seelischen Bereiches in der Jetztzeit loskommen und die Trennung der Welten beenden. Die alten Spuren sind heute noch zu sehen, denn sie wurden in den Fels eingehauen von Menschen, die mehr von den verschiedenen Welten gewußt haben als der moderne Mensch. Die Damaligen kannten noch verbindende, grenzüberschreitende Vorgehensweisen. Und in den Spuren hat sich das über Generationen hinweg Bewährte erhalten.

Auf Subjektstufe weist die ganze Angelegenheit auf Kindheitsreste hin, welche ihre (traumatischen ?) Spuren hinterlassen haben. Auf eine Zeit, wo ich als naives Kind in aller Offenheit und Unvoreingenommenheit mit der Sicherheit des verwurzelten Instinktes an eine neue Sache herangegangen bin - mit einem kindlichen Enthusiasmus, der keine Hindernisse kennt. Und tatsächlich: Auch wenn mich damals mein Vater geschlagen hat, um mich für mein unerlaubtes Weggehen zu bestrafen, ging ich immer wieder von zu Hause. Mit der Zeit wußte ich mich aber so zu verhalten, daß niemand mein Weggehen bemerkte - und ich mußte einfach fortgehen, um Dinge in Erfahrung zu bringen, von denen die Erwachsenen nichts wußten.

Dieselbe Situation besteht irgendwie heute (1974) noch, sonst hätte der Traum nicht diese alten, fast vergessenen Sachverhalte ans Licht gebracht. Noch heute meinen gewisse Leute, sie wüßten Bescheid über die jenseitigen Zonen (über das Unbewußte). Sie argumentieren aus dem kollektiven Bewußtsein heraus und wollen mir als jungem Menschen verbieten, luzid in diese Zonen hineinzugehen. Sie reagieren ähnlich wie damals mein Vater, werden sauer und drohen mit Repressalien. Der Abbruch der Studien am Jung-Institut war übrigens gleichbedeutend mit einem "sozialen Tod", denn der Weg zum Psychotherapeuten war nunmehr verbaut.

"Niemand" scheint jene andere Welt (die des luziden Traumes und der Außerkörperlichkeit) zu verstehen, und ich muß mir das (1974) ganz klar vor Augen halten, denn es ist eine Welt jenseits des Normaltraumes. Ich selber habe also wieder jene alten Verhaltensmuster aus meinen Kindheitstagen zu beleben und anzuwenden. Dazu gehören Verhaltensweisen, welche es schlußendlich fertiggebracht haben, daß niemand von meinen Unternehmungen eine Ahnung hatte. (Praktisch bedeutete dies, daß ich im Verlaufe der Schulanalyse nichts mehr von Luzidität erwähnte und meine Träume selektierte.)

Früher war es vielleicht manchmal meine Großmutter, der ich gewisse Dinge erzählte. Sie aber konnte schweigen. Denn etwas bereits Geschehenes plagte sie nie sonderlich. Niemals durfte sie aber eine Sache zum voraus wissen.

So entwickelte ich in meiner Kindheit schließlich eine "Technik", die alle erziehungsberechtigten Personen in "trügerischer" Sicherheit leben ließ: Zuerst trieb ich mich in deren Bereich herum, aber dann setzte ich mich unauffällig von ihnen ab. Niemand bemerkte mein Verschwinden. Und ebenso unauffällig kam ich wieder zurück - und zwar rechtzeitig (das verhinderte Schelte und Schläge). Auf diese Weise gliederte ich mich wieder ein, so, als wäre ich nur kurz um die Ecke gegangen und nicht derart weit weg. Mein Fortgehen hätte die größten Repressalien hervorgerufen, wenn jemand davon Kenntnis gehabt hätte. So aber "gewöhnte" ich jedermann an eine längere Abwesenheit, so daß niemand mehr nach mir fragte, denn jeder meinte gewissermaßen, ich sei beim anderen. Wo ich aber tatsächlich war, das wußte niemand. (Dies nennt man übrigens "Paturi-Effekt".) Und das alles als Vierjähriger.

Es geschieht - um wieder auf das Traumgeschehen zurückzukommen - nach dem "Wiederfinden" der Spuren eines alten Weges das völlig Unerwartete. Zwischen der Felsplatte und der Erde besteht eine Art von natürlicher Säulenhalle mit Gräbern.

Damit wird eine mir bisher unbekannte Zwischenzone sichtbar bzw. verdeutlicht, welche zwischen der Bewußtseinsstruktur und dem Jenseitsbereich einzuordnen ist - nämlich das Land der Ahnen. Hier sind viele Sachverhalte "versteckt", die noch bewußt zu erkennen sind. Diese stecken tief im "eigentlichen Unbewußten" - nämlich in der Erde, sind also stark verbunden mit dem irdischen Bereich. Es muß sich um noch unbekannte Aspekte des Erdhaften handeln, welche in der Niemandslandzone "begraben" sind und maßgeblich mit den Ahnen zu tun haben. Es sind vor-rationalisitische Komponenten, die - das würde ich als Arbeitshypothese einmal sagen - mit dem Mittelalter etwas zu tun haben. Also mit dem luziden Träumen - es sei bloß an das "dormiens vigila" der Alchemisten erinnert. Denn auf das Mittelalter wurde in gewissen anderen Träumen angespielt, z.B. gerade im gestrigen.

Diese sichtbar gewordene Gräberzeit reicht bis an die Jahrhundertwende heran, also bis zur eigentlichen Hochblüte des Rationalismus. Dies könnte auch etwas mit dem Emotionalen zu tun haben. Denn es war nicht zuletzt mein jüngerer Bruder, der es mir damals (1948) in der Zeit der Schwangerschaft meiner Mutter als Drei- bis Vierjähriger erlaubte, noch unauffälliger meiner besonderen Beschäftigung nachzugehen. Es war somit die Konstellation des "Bären", welche mich beinahe zwanghaft tiefer ins "Unbewußte", in die Anderwelt hineinmanövriert hat. Aber mein Name ist "Werner", was nichts anderes heißt als "der Bärentöter", also jemand, der - in meinem Fall - Strukturen, welche die kollektiv gebilligte Auffassung (mein Bruder ist jemand, der sich sehr gut an die Gepflogenheiten angepaßt hat) tötet und ihnen damit eine Wandlung ermöglicht. (Das Thema der Bärentötung ist sehr komplex und wird auch am 7. Januar 1974 zur Sprache gebracht. Hierzu vgl. "Quellen der Nach" S. 82-100.)

Die drei Männer weisen auf etwas Männliches, welches in dieser Situation eher behindert, denn die drei (Trinität) resignieren beinahe. Sie könnten zum einen Personifikationen meiner "Zweifel" sein, die vor allem von meiner rational geprägten Seite ausgehen. Von jenen Denkanteilen also, die noch identisch sind mit dem kollektiven Bewußtsein.
"So was kann nicht gehen!"
"Für so etwas reicht sie nie - die Zeit!"
"Wozu soll das gut sein?"
"Man kann damit kein Geld verdienen."
"Ein Kind kann das nicht!"
Sie könnten aber auch mit dem Trinitarischen zu tun haben - wiederum ein Problem, das sehr viel umfaßt. Es hat mit der Bewertung des Weiblichen durch das Christentum zu tun.

Hier im Traumgeschehen kommt es zu einer Besinnung auf das ältere und damit auf die ältesten Wege, die vom Christentum vernachlässigt worden sind. Durch eine genaue Beobachtung, d.h. unter dem Einsatz der Empfindungsfunktion, welche die unscheinbare Rinne erst einmal sieht, dem Denken, welche sie als Spur identifiziert, der Intuition, die deren ehemaligen Funktionen erahnt und dem Gefühl, das die passende Wertung gibt, wird der ungewohnte Weg als solcher erkennbar. Dann erst kann ich mich in die Rinne setzen und in ihr heruntersausen, ohne daß mir ein Unheil geschieht - und es kann sich im Endeffekt eine neue Sichtweise eröffnen. Eine neue Erkenntnis bahnt sich offensichtlich an.

Mein eigener Weg schien mir damals nicht mehr so deutlich, zu sehr verunsicherten mich die Analytiker - und ich glaubte, der innere Dynamik nicht mehr trauen und sie nicht mehr erahnen zu können. Aber jetzt scheine ich wieder auf dem richtigen Weg zu sein, denn er verknüpft verschiedene Aspekte miteinander, die vordem nicht auf diese Weise verbunden waren.

Bemerkung (März 1999): Die jüngeren Grabsteine könnten auf jene hinweisen, die sich um die Jahrhundertwende mit dem luziden Träumen befaßt haben. Dazu gehören z.B. Hervey de Saint Denys, Frederik van Eeden, J. Popper-Lynkeus und M. Arnold-Forster. Die älteren Grabsteine erinnern an schamanistische Praktiken, Zaubermärchen und Legenden, wie sie von Heino Gehrts in seinem Buch «Von der Wirklichkeit der Märchen» (Regensburg: Röth, 1992) beschrieben worden sind.

Textanfang

Konvertierung zu HTML Oktober 1999
Homepage: http://www.oobe.ch
e-mail: werner.zurfluh@oobe.ch
©Werner Zurfluh