Die Eiche
7. Dezember 1984
Werner Zurfluh
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Mit meiner Frau Cathy bin ich in einer Stadt, deren Ausstrahlung neuzeitlich und dennoch irgendwie mittelalterlich ist. In einem Park in einem Teich schwimmen Schwäne, zu denen ich hinschlendere - sogar ins Wasser hinein. Beim Näherkommen frage ich die weissen Vögel, ob es mir gestatten wäre, mitzufliegen. Das erinnert mich an Selma Lagerlöfs Roman. Damit wird mir nicht nur die Ähnlichkeit mit der Geschichte von Nils Holgerson bewusst, sondern auch meine augenblickliche Situation, in einem Traumgeschehen zu sein. Mir ist klar, dass all die Gegner des Axioms der Multidimensionalität in diesem Augenblick wieder mal von Kryptomnesie sprechen werden. Mich kümmert - wie stets in solchen Momenten - dieser mögliche Einwand herzlich wenig. Vielmehr scheint es mir wichtig, die Tiere um ihr Einverständnis zu bitten.

Freundlicherweise wird mir erlaubt, mich der Vogelgruppe anzuschliessen. Bald darauf heben wir allesamt vom Wasser ab und steigen in die Höhe. Obwohl ich mit dem Fliegen kaum Probleme habe, kommt es mir ein wenig unpassend vor - aus mir nicht einsehbaren Gründen. Irgendwie habe ich zudem das Gefühl, dass ich mich nicht dem Zug der Schwäne anschliessen sollte, um in die Ferne zu fliegen, sondern woanders hinzugehen habe und setze zur Landung an, allerdings nicht ohne zuvor noch einige Flugversuche unternommen zu haben.

Indem ich mit den Armen auf und ab schlage, ahme ich den Flügelschlag der vor mir in der Luft schwebenden Tiere nach - und erinnere mich dabei an die TV-Sendung "Der fliegende Ferdinand", in der die Leute nach dem Schmecken einer Blume in die Lage versetzt wurden, zu fliegen. Dieser Gedanke belustigt mich.

Nach der Landung gehe ich durch die engen Gassen der Stadt und gelange schliesslich zu einem Tor. Beim Passieren fällt mir auf, dass diese Pforte wie eine Grenze zwischen "Diesseits" und "Jenseits" ist. Die Stimmung ist ähnlich wie auf dem Bild "Das Felsentor" von Karl Friedrich Schinkel (1818). Mich erstaunt dies, zumal mir der deutliche Grenzübertritt unerwartet zustösst, und werde mir eindringlich bewusst, dass in diesem Augenblick eine prinzipielle Grenze überschritten wird - und zwar endgültig.

Damit wird etwas getan, das zum jetzigen Zeitpunkt vom Alltag her nicht zu begründen ist. Zwar habe ich in den letzten Nächten immer sehr klar und für mich auf eine positive Art und Weise "geträumt". Aber nunmehr scheint es mir um einen Sachverhalt zu gehen, der mich als Mensch im Innersten betrifft. Tatsächlich wird eine Stadt, d.h. eine Welt mit ganz eigener Charakteristik, verlassen. Es geht in eine andere Wirklichkeit hinein. In diese bin in zwar schon ein paar Mal eingetreten, aber es war stets nur für eine kurze Zeit und vorübergehend.

Irgendwie ist mir tief im Innern klar, dass diese Erfahrung nicht wieder in der "Stadt" enden wird. Vielmehr wird in diesem Augenblick eine Schwelle, eine Grenze, überschritten. Dieser Schritt wird nicht mehr rückgängig zu machen sein. Eine Welt bleibt hinter mir zurück, von der ich mich innerlich schon jetzt endgültig verabschiedet habe. In die alte Welt werde ich niemals mehr zurückkehren! Dies alles geschieht zwar völlig unerwartet und mit einer Plötzlichkeit, für die es keine Vorbereitung geben kann. Doch die Endgültigkeit, mit der dies geschieht, gibt mir keinerlei Anlass zum Bedauern. Es besteht auch kein Grund dafür.

Auf der anderen Seite des Tors geht es auf einem ziemlich schmalen Bergpfad weiter. Bald sind Cathy, ich und (allerdings nur vage "vorhanden") unser Sohn Beat, der 1967 geboren wurde, mitten im Gebirge. Rechts ist ein Steilabfall in eine tiefe Schlucht, auf deren Grund ein Bergbach in die Richtung fliesst, aus der wir gekommen sind. Auf der Seite zur Schlucht hin liegen grosse Baumstämme. Manche sind über 20 Meter lang und haben einen Durchmesser von mehr als eineinhalb Meter. Ich denke an die Bergler, welche diese Stämme hier plaziert haben, und staune. Bei näherem Besehen und Betasten ist festzustellen, dass es Eichenstämme sind. - Sie werden Jahrzehnte wenn nicht gar Jahrhunderte halten.

Dann entdecke ich zu meiner grossen Verblüffung, dass es sich bei diesen Stämmen, die einen begehbaren Weg bilden, keineswegs um gefällte Einzelbäume handelt. Vielmehr sind es die Wurzeln eines Baumes. Ich will dies zunächst gar nicht glauben, denn eine Eiche mit solchen Wurzeln müsste ja gigantische Ausmasse haben. Deshalb überprüfe ich die Angelegenheit nochmals. Dabei bin ich mir nach wie vor der Tatsache, im Traumzustand zu sein, völlig bewusst, d.h. ich bin luzid. Diese Luzidität macht mich aber noch kritischer und lässt mich noch genauer hinschauen. Und so wird bei einer genauen Betrachtung und Untersuchung des "Stammverlaufes" zweifelsfrei deutlich, dass es sich um Wurzeln handelt.

Ich trete etwas an den rechten Rand des Weges, um besser hinaufschauen zu können. Was da zu sehen ist, übertrifft all meine Erwartungen in bezug auf die Grösse einer Eiche. Die Dimensionen dieses Gewächses sind einfach nicht zu fassen. Es ist auf jeden Fall grösser als alles mir Bekannte. Die Steilheit des von der Eiche gebildeten Geländes scheint unüberwindlich. Der Baum, dessen Wurzeln diesen wunderbaren Weg geschaffen haben, ragt etwa 1500 bis 2000 Meter in die Höhe und befindet sich mitten in einem riesigen Gebirgskessel. Die Krone der Eiche ist nicht zu sehen, vielleicht überragt sie sogar die umliegenden Berggipfel. Eines aber ist deutlich zu erkennen: Es ist eine Burg, eine Art Schloss - gebildet aus verschlungenen Teilen der Äste der Krone. Und wir sind zu diesem Ort hin unterwegs!
"Möglicherweise werden wir ihn erst erreichen, wenn wir gestorben sind!"

Wir wandern weiter, kommen mit der Zeit aus dem Wurzelbereich heraus und können nun nicht mehr auf dem von den Wurzeln vorgebildeten "Steig" weitergehen. Vor uns ragt die nicht zu überblickende Stammbasis der Eiche wie eine Mauer auf. Hier ist der Pfad zu Ende! - Wir werden klettern müssen, um weiterzukommen. Durch die starke Rippung der Eichenborke sollte das grundsätzlich möglich sein. Ich übernehme die Spitze unserer kleinen Dreier- oder Zweiergruppe und ertaste langsam und vorsichtig einen Halt für Füsse und Hände.

Bald einmal zeigt es sich, dass trotz der Borkenstruktur ein Klettern enorm schwierig ist. Mit der rechten Hand ist erfreulicherweise eine von unten her nicht einsehbare Rille zu ertasten. Sie gibt Halt und erlaubt ein Hochziehen. Und dann ist mit der linken eine sägemehlartige Masse zu spüren, die sich leicht wegschieben lässt, wodurch ein Spalt freigelegt wird, der einen guten Griff bietet. Ich kann sogar meinen Unterarm in ihn hineinlegen und verklemmen - und den Arm auf diese Weise wie einen Hebel zum Hochstemmen benutzen. Auch Cathy wird diese Stelle überwinden können!

Es stellt sich die Frage, ob diese Kletterhilfen schon immer hier gewesen sind. Aber über die Jahre, Jahrhunderte und Jahrtausende wurden sie offensichtlich zugeschüttet. Dieser mächtige Baum erstaunt mich immer mehr. Irgendwie besteht zwischen ihm und mir eine tiefe Verbindung. Dennoch zweifle ich daran, ob wir mehr als 10 oder 20 Meter aufzusteigen in der Lage sein werden, denn die Stammbasis wird nach ein paar Metern beinahe überhängend.

Aber dann gelange ich schon nach fünf Metern auf einen Absatz. Das ist etwas völlig Unerwartetes. Und noch Erstaunlicher ist die Tatsache, dass hier der Eingang zu einer Höhle ist. Eine verborgene Öffnung zu einer Baumhöhle, die von unten nicht gesehen werden kann. Mir fällt ein Stein vom Herzen!

"Cathy, es geht, du kannst hochkommen!"
Bald ist meine Frau bei mir und lässt sich über den Sims helfen. Zusammen steigen wir in die Baumhöhle hinein. Der Gang ist gerade so hoch, dass wir aufrecht gehen können. Nach etwa sechs Metern macht er einen Bogen nach links. Von da an geht es relativ steil hinauf. Dieser Höhlenpfad bildet also die Fortsetzung des Wurzelweges und kann nur nach Überwindung des scheinbar unüberwindlichen Stammbasishindernisses erreicht werden. Er ist wiederum eine Struktur des Baumes und leuchtet von innen heraus in einem gelb-ockerfarbenen Licht, das warm und heimelig wirkt.

"Wohin mag dieser Gang führen?"
Mit diesem Gedanken wird der im Bett liegende Körper wieder spürbar.


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