Briefwechsel mit Michael Ende
25.8.1988 - 13.9.1988
e-mail: Homepage Michael Ende

25.8.88

Lieber Werner Zurfluh,

als Gruß und Dank für Ihren freundlichen Brief schicke ich Ihnen zunächst einmal mit getrennter Post ein Buch von mir, das Sie vermutlich noch nicht kennen, das Ihnen aber bis zu einem gewissen Grade zeigen kann, daß der Umgang mit der Nichtalltäglichen Wirklichkeit für mich durchaus kein Sonntagsspaziergang ist. Auf Ihren Brief möchte ich ein wenig später eingehen,weil ich im Augenblick wieder einmal im Gedränge bin und mir unbedingt Zeit dafür nehmen möchte.

Erlauben Sie mir nur vorerst noch eine Bemerkung zum"Spiegel im Spiegel": An diesem Buch habe ich mehr als zehn Jahre gearbeitet, d.h. ich habe es v o r der "MOMO" begonnen und n a c h der "Unendlichen Geschichte" beendet und herausgegeben. Mit diesem Buch ist es mir gelungen, selbst gutwillige Leser und Kritiker gründlich zu irritieren - ähnlich wie es Ihnen mit den "Quellen" ergangen ist. Man wußte nicht - und konnte sich offenbar auch nicht vorstellen - daß dieses Buch w ä h r e n d der Arbeit an den anderen Büchern entstanden ist. Man hatte mich doch zum Weihnachtsmann der Nation ernannt und vermißte nun bitterlich den "tröstlichen Aspekt" und die "Botschaft". Ich bekam sogar nicht wenige Briefe mit dem Tenor: "O gott, lieber Michael Ende, was ist Ihnen denn nur Schreckliches passiert, daß Sie plötzlich so n e g a t i v und d e p r e s s i v geworden sind?" Man hatte sich so daran gewöhnt, vom Autor an der Hand genommen und durch die Geschichte geführt zu werden - natürlich mit der Gewissheit, daß alles gut ausgehen werde - daß man es als regelrechten Verrat von seiten des Autors empfand, daß dieser plötzlich dem Leser zumutete, sich selbständig und ohne helfende Hinweis einen Weg durch das Spiegel-Labyrinth zu suchen. Und wozu überhaupt, da ja auch jede "Botschaft" fehlt, an der man sich festklammern kann. Es gibt sogar Leute, die über der Lektüre dieses Buches regelrecht ihr bißchen Verstand verloren haben (obwohl ich annehme, daß dieser Verlust schon vorprogrammiert war und durch mein Buch nur ausgelöst wurde).

Der Titel "Spiegel im Spiegel" bezieht sich auf Mehreres. Einmal natürlich auf das bekannte Zen-Koan "Was zeigt ein Spiegel, der sich in einem Spiegel spiegelt?", das ja auch schon in der "Unendlichen Geschichte" zitiert wird. Zum anderen auf den Bauplan des Buches. Jede Geschichte spiegelt sozusagen ein Element der vorausgehenden Geschichte und verwandelt es. Figuren und Bilder sind in einem ständigen Fluß der Veränderung. Vorher und Nachher sind bisweilen vertauscht: Der Einbeinige taucht schon anfangs auf, verliert aber erst in der Mitte des Buches sein Bein u.s.w. Man kann das Buch entweder von vorne nach hinten lesen oder von hinten nach vorn, also mit der letzten Geschichte beginnend, da es zyklisch aufgebaut ist und der Schluß sich wieder auf den Anfang bezieht. Manchmal gehen auch Spiegelreflexe quer durch das ganze Buch und nehmen Motive auf, die in viel späteren oder früheren Geschichten kommen. Die meisten Geschichten sind Szenen auf einem immaginären Theater. Ein merkwürdiger Vorgang wird kommantarlos geschildert. Anfang und Schluß sind jeweils offen. Ist der Vorgang zuende, verwandelt sich das Bild - oder ein Teil des Bildes - in ein neues Bild, in dem wieder etwas vorgeht. Das Ganze findet sozusagen in einem schwerelosen Raum statt, in dem es kein Oben und Unten gibt, in einem Orbit, der einen Kreis um etwas beschreibt, das selbst ausgespart wird.

Ganz folgerichtig wird es manchen Lesern buchstäblich schwindelig beim Lesen. Sie mußten sich "an ihrem Stuhl festhalten, um das Gefühl des Fallens loszuwerden". Ich habe diese - zugegebenermaßen - etwas beunruhigende Kompositionsform natürlich nicht zufällig gewählt, sondern um den Leser zu einer besonderen Erfahrung einzuladen. (Es geht mir ja immer darum, den Leser nicht zu belehren, sondern ihn bei der Lektüre etwas e r l e b e n zu lassen).

Damit bin ich nun beim eigentlichen Grund für den Titel: Wo geschieht das, was beim Lesen eines Buches geschieht? Im Buch selbst sind ja nur schwarze Zeichen auf weißem Papier, die für sich allein bedeutungslos sind. Geht es also allein in der Vorstellung des Lesers vor? Aber er braucht ja wiederum das Buch dazu, sonst geht gar nichts vor. Und wenn z w e i verschiedene Leser das g l e i c h e Buch lesen, lesen sie dann wirklich das gleiche Buch? Bringt nicht jeder Leser, ob er will oder nicht, sein eigenes Niveau, seine Assoziationen, seine Erfahrungen und Gedanken in die Lektüre mit ein? Und umgekehrt, wenn e i n Leser z w e i verschiedene Bücher liest, sind die Bücher dann wirklich so völlig verschieden? Ist nicht Jedes Buch ein Spiegel, in dem sich der Leser selbst spiegelt, ob er es nun weiß oder nicht? Und ist nicht jeder Leser ein Spiegel, in dem sich das Buch spiegelt? Wo also geht das vor, was zwischen einem Leser und seinem Buch vorgeht? Eben z w i s c h e n beiden, an einem "ortlosen Ort". Und doch ist es völlig konkret, was da vorgeht. Unser ganzes Leben in der Welt geht nicht anders vor.

Wenn man behauptet, etwas "verstanden zu haben" oder "erklären zu können", so meint man ja im allgemeinen damit, daß man es auf etwas vorher schon Bekanntes, Altvertrautes zurückführen kann. Dann ist das eigene Bewußtsein wiedereinmal um die Peinlichkeit herumgekommen, das Rätsel seines eigenen Vorhandenseins wahrnehmen zu müssen. Wiedereinmal hat man Bewußtseins-Inhalt mit dem Bewußtsein selbst verwechselt. Das passiert ja dauernd.

Es ging mir also beim Schreiben meines Buch darum, den Leser sozusagen zu einem freien Spiel einzuladen, bei dem Vorstellungs- oder Bewußtseinsinhalte ständig aufgelöst oder verwandelt werden, sodaß man sich an ihnen nicht mehr festhalten kann, und eben dadurch das Bewußtsein auf sich selbt verwiesen und seiner selbst gewahr wird. Der Leser sollte darauf aufmerksam werden, was er selbst fortwährend tut, während er liest. Es gibt sogar mehrere Geschichten, in denen das direkt erklärt wird, z.B. "Der Weltreisende" oder "Langsam wie ein Planet..." oder "Im Klassenzimmer regnete es ...". Trotzdem hat das eigentlich niemand kapiert. Vielleicht gibt es auch starke innere Widerstände gegen eine solche Unbehaglichkeit. Vielleicht ist es auch einfach noch ein bißchen zu früh und wird erst noch kommen. Sei's drum.

Lieber Werner Zurfluh, nun ist diese eigentlich kurz gedachte Bemerkung halt doch wieder ziemlich lang geworden. Vielleicht gehört aber doch einiges darin schon durchaus zu unserem Thema. Sie brauchen darauf nicht zu antworten, wenn es Ihnen nichts sagt. Bald antworte ich erst mal auf Ihren Brief.

Mit herzlichem Gruß

Michael Ende


Arosa, 27.08.1988

Lieber Michael Ende,

da es mir Freude macht, Briefe irgendwie direkt und spontan zu beantworten, erlaube ich mir, Ihnen meine Reaktionen auf Ihren Brief mitzuteilen, später dann auch jene auf Ihr Buch, wofür ich mich übrigens herzlich bedanken möchte. Nur schade, dass auf dem Foto die Spiegelsequenz nicht fortlaufend spiegelverkehrt dargestellt wurde!

Bezüglich Spiegel gibt es in Fynn's "Hallo Mister Gott, hier spricht Anna" im Kapitel 18 "Das Buch ohne Seiten" (S.100) einen hübschen Abschnitt: Mittels zweier Spiegel ergab sich da ein merkwüdiges, herrliches Buch mit Squillionen Seiten, das keine einzige Seite besass. Und je weiter es zugeklappt wurde, desto mehr entstand ein Kreis. Fynn und Anna steckten die verschiedensten Dinge zwischen die beiden Spiegel, und es ergaben sich die verblüffendsten Formen und Muster. Und schliesslich zeigte es sich, dass sich manche Dinge "von innen nach aussen, manche von links nach rechts" verwandelten, "und manche blieben, wie sie waren" (S.104). Und man konnte die zwei Seiten, die so ein Ding hatte, gleichzeitig sehen! Und man konnte über die verkehrte Spiegelbildlichkeit des Menschen nachdenken, wenn man daran dachte, dass Gott den Menschen nach seinem Spiegelbild geschaffen habe.

Bestimmt wird die Momo und werden Bastian/Atréju mehr geschätzt als "Der Spiegel im Spiegel", aber wer betrachtet sich denn schon in einem Spiegel, wenn dieses Ding in unserer Gesellschaft offensichtlich bloss dazu da sein kann, das Auflegen einer Maske zu bewerkstelligen. Wie sehr müssten die Leute ihren Verstand verlieren, wenn sie tatsächlich das in einem Spiegel erblickten, was sie selber sind. Sie müssten das aufgeben, womit sie sich stets ver-standen und verschminkt haben.

Übrigens werden sie bei einem Vergleich Ihres Brieftextes mit Fynn's Anna in Kapitel 18 mit Leichtigkeit erkennen, weshalb mich Ihre Zeile an die Anna erinnert haben!

Ja, schliesslich geht es noch um weit Schwierigeres und Diffizileres! Das, was Sie da andeuten und wo Sie mit der Frage weiterfahren: "Wo geschieht (eigentlich) das, was beim Lesen eines Buches geschieht?", das ist letztlich doch die Frage, die auf das Eigentliche zielt und auf den erkenntnistheoretischen Kern der Sache hinausläuft. Meines Wissens habe ich davon in meinem ersten Brief nichts geschrieben. Dass ich mich nämlich intensiv mit dem sogenannten radikalen Konstruktivismus beschäftige (Watzlawick, Maturana, von Foerster, von Glasenapp). Denn im Hinblick auf die Intersubjektivitätsfrage jenes Erfahrungsbereiches, den ich in den "Quellen" darzulegen versucht habe, der aber auch in Ihren Büchern deutlich aufscheint - und in all den buddhistischen Schriften, in den Märchen, den Schamanenberichten, den Erzählungen der Magier und der Mystiker usw. usf. -, gibt es schwerwiegende Fragen und Antworten.

Sobald es um die "Spiegelfrage" geht, begibt sich der Mensch in eine erschreckend klare Sphäre der Verantwortlichkeit, des Mit-Leidens und der Ein-Sicht. Und wenn schliesslich das Innen zum Aussen, das Äusserliche aber zum Innerlichen wird, erscheint die Umweltsverschmutzung mit einem Male als Innenweltkatastrophe. Hier erweist sich das Wechselspiel zwischen Leser und Buch wieder "nur" als weitere Spielart einer allgemeinen Wechselwirkungsproblematik und damit der Konkretisierung und Materialisierung gemeinsamer Vorstellungen und Meinungen. Dass darob manchen schwindlig werden könnte, ist nicht weiter verwunderlich, denn plötzlich guckt das Sphinx-Rätsel der eigenen Existenz in Raum und Zeit mit aller Deutlichkeit aus dem Spiegel heraus. Und dann gibt es kein Ausweichen mehr vor der Frage nach dem "Wer bin ich?" Wenn aber Inhalte sich ändern und sich als akzidentiell erweisen, dann bleibt schliesslich bloss die nackte Bewusstheit, das wahre Antlitz, übrig.

Nun werde ich aber Ihr Buch vornehmen - bestimmt ohne jene inneren Widerstände und ohne jenes Unbehagen, das Sie bislang seitens der Leser oft haben erleben müssen. Dass aber das, was Sie in Ihrem Brief mit der Leser-Buch-Frage aufgegriffen haben, ganz zentral zu unserem Thema gehört, ist unbestritten!

Mit lieben Grüssen

Werner Zurfluh


Arosa, 27.-28.08.1988

Lieber Michael Ende,

wie obiges Datum zeigt, habe ich bereits am Samstag mit der Lektüre von "Der Spiegel im Spiegel" angefangen. Bereits auf den ersten Seiten bei Hor dämmerte es mir. Dann auf Seite 15 blätterte ich schnell zum Imprimatur, um nach der Jahreszahl zu schauen. 1984 kam das Buch heraus, die Quellen 1983. Uff, nochmals Glück gehabt, sagte ich mir dann spasseshalber, als ich staunend las, wie sich "Feder um Feder, Muskel um Muskel und Knöchelchen um Knöchelchen in langen Stunden der Traumarbeit gebildet" hatten, "bis sie mehr und mehr Gestalt annahmen." Diese Stelle rief natürlich Erinnerungen in mir wach - und sofort wurde mir endgültig klar, weshalb die "Quellen" wiederum in Ihnen Erinnerungen wecken. Zum Donnerwetter nochmals, wenn dem so ist, dann wird sich die Intersubjektivität im 'nächtlichen Bereich' als erkenntnistheoretisches Problem tatsächlich in neuer Schärfe stellen. In einer Deutlichkeit, wie ich sie im europäischen Rahmen niemals für möglich gehalten hätte. Da leben Sie und ich also gemütlich Hunderte von Kilometern voneinander entfernt - und dann "träumen" wir doch irgendwie beinahe dasselbe. Was soll ich dazu noch sagen? Und dann schreiben Sie, Sie möchten Ihre Kerze an der meinen entzünden! Nur gut, dass ich schon in meinem ersten Brief gesagt habe, Ihre Kerze würde schon längstens brennen, sonst müsste ich mich jetzt gehörig schämen.

Wenn ich Ihr Buch lese, dann ist es einfach so, als würde ich meine "eigenen" Träume lesen. Nur dass Sie sie andersartig zu Papier bringen, weil Sie eben der Michael Ende und nicht der Werner Zurfluh sind. Sehen tun wir wohl dasselbe, beschreiben tun wir's aber unterschiedlich und doch ähnlich. In den "Quellen" wären zwischen der Seite 14 und 15 oder zwischen all den anderen Kapiteln bloss einige Einschiebsel zu finden, in "Der Spiegel im Spiegel" sind es dafür teilweise stark alchemistisch anmutende Bilder Ihres Vaters. Was, wenn Ihr Buch als Sachbuch, als alchemistisches Traktat aufgefasst wird? He, he, dann würde den Leuten noch schwindliger werden und sie müssten sich mangels eigener Erfahrungen, d.h. ohne Flügel, in einem wahren Labyrinth verirren. Doch leider ist es so, dass viele nicht lieben, also nicht glücklich sein können. Dies ist die wahre Tragik unserer Zeit. Und so bleiben viele Menschen in ihrem selbstgebauten Labyrinth gefangen, ohne je die Möglichkeit zu haben, es von weiter oben als durchaus überschaubares Konstrukt zu erkennen. Aber um Fliegen zu können, dazu bedarf es des Ungehorsams und der Zurückweisung vielfältigster Verstrickungsmöglichkeiten. Gerade dies - nämlich der Ungehorsam und die Verweigerung - hat mir ungemein zu schaffen gemacht. Und ohne meine Frau und die beiden Kinder (die sind mittlerweile erwachsen, d.h die Tochter ist 23, der Sohn 21 Jahre alt) hätte ich es kaum vermocht, all die Karriereversprechungen zurückzuweisen und den Forschungen im nächtlichen Bereich intensiv nachzugehen.

Denn bereits als Student begann ich, wie ich meinte, zu viel zu versäumen. Wissen Sie, manchmal lese ich Ihren Text kopfschüttelnd und denke, "Das gibt's ja nicht!" Ob es Ihnen beim Lesen der "Quellen" ab und zu auch so ergangen ist!? - Zurück zum Text: In einem Provisorium hängen bleiben, und, ich dachte es mir, schliesslich doch den Staubwedel übernehmen, dies wäre für mich beinahe zur Falle, zum Fallen in den Staub des universitären und gesellschaftlich sanktionierten circulus vitiosus geworden. Sie sehen, dass das Wo des Geschehens beim Lesen eines Buches wenigstens in meinem Falle offensichtlich ist. Ich lese das, was ich sehen kann, was ich selbst erlebt habe - oder beschreibt etwa der Autor des Buches ebenfalls nur jene Dinge, die er gleich mir gesehen hat? So wie zwei Fotografen mit je unterschiedlichen Apparaten dasselbe Motiv ablichten? Vielleicht aus einem anderen Blickwinkel und mehr oder weniger stark retouchiert. Dennoch bleibt das Motiv deutlich sichtbar, erkennbar und greifbar.

Mich stimmt allerdings das allzu Surreale nachdenklich, denn es bleibt zwischen Himmel und Erde hängen, es schwebt zwischen den Wirklichkeitsebenen, so, als weigerte es sich zu inkarnieren und eine Wechselwirkung einzugehen. Das weder Fisch noch Vogel und auch nicht Chimäre sein wollen, führt zu Unverbindlichkeiten, zu unstetigem, ungreifbarem Wandel und entlässt schliesslich den Menschen aus der Verantwortlichkeit. Dann schweben die Inseln weit getrennt voneinander als vereinzelt dahingleitende Bahnhofs- bzw. Bankkathedralen aneinander vorbei - niemals vollendete Bauwerke der Kommunikation und des rein äusserlichen Reichtums. Wohin sollten deren Träger auch ankommen, wo sie doch unfähig sind, statt Geld zu erzeugen das aurum non vulgi aus sich herauszudestillieren. Wo sie nicht einmal wissen, dass sie allesamt auf einem Pulverfass sitzen. Niemand wird bei ihnen je ankommen können, weil sie es alle eilig haben und irgendwohin gehen müssen (aber nirgendwohin gehen können) - obwohl letzten Endes auch für sie der letzte Zug einmal abfahren sein wird. Aber auch dann zerstäubt es sie, fliegen sie auseinander wie ein Bündel Geldscheine in einem starken Windstoss. Aber sie bemerken es nicht einmal und erleben sich höchstens wieder auf einer anderen Insel.

Doch, es gibt schon einige wichtige Punkte, in denen sich Ihre Geschichten - Ihre Träume, so unterstelle ich es jetzt einmal - von meinen Träumen unterscheiden. Zum einen fehlt natürlich eine kontinuierliche Ich-Figur, die handelnden Gestalten sind multipersonal, wodurch der Effekt der Abruptheit entsteht, ja beinahe eine Art Zerissenheit. Zwar fehlt der 'rote Faden' keineswegs, aber er läuft weder explizit noch implizit (was meines Erachtens ungemein wichtig ist) über das Ich als Bewusstseinträger bzw. als bewusste Wesenheit. Dadurch überwiegt die Schwerelosigkeit des Raumes und manche Szenen wirken beinahe schon bedenklich tragisch. Es entsteht keine Informationsstrukturierung, weil der Kreis immer nur das beschreibt, was prinzipiell ausgespart bleibt. Im Zentrum des Orbits ist zwar für mich ein Ich auszumachen, aber dieses Ich leidet irgendwie. Es ist der Gefangene des Orbits, auf den es fasziniert hinschaut und wo die Dinge geschehen. Ich bin mir dabei nicht so sicher, ob es sich dabei bloss um eine von Ihnen bewusst gewählte Kompositionsform handelt oder ob dabei nicht auch das zu Ausdruck kommt, was Sie im ersten Brief mit "notwendig und unausweichlich" gekennzeichnet haben. Ich habe das Gefühl, selbst durch den schwarzen Vorhang hindurch in das Zentrum des Zyklons hinabblicken zu können - nur hebt sich dieser Vorhang nie und es kommt zu einer repetitiven, beinahe zwangshaften Handlungsweise und dann auf dem Höhepunkt des Geschehens zu einem sprunghaften Wandel ohne jede Erinnerungs- und Kommunikationsmöglichkeit.

Ich muss Ihnen sagen, dass mich diese Art des Erlebens stark an meine Anfangsjahre erinnert, an die Jahre des Träumens nämlich, in denen ich als Ich im besten Falle eine beobachtende Rolle zu übernehmen gewillt war und mich dabei gewissermassen weigerte, selbst als handelnde und verantwortliche Person in das imaginäre Theater einzusteigen. Auf diese Weise aber wurden die Träume bei mir tatsächlich schwerelos und ohne Zusammenhang. Genauer gesagt, eine Verbindung liess sich nur mit grossem Aufwand sichtbar machen und bezog sich dann stets auf bestimmte Trauminhalte, die einen beinahe willkürlich und künstlich anmutenden Veränderungsprozess anzeigten. Solange ich bestimmten Traumtheorien verhaftet blieb, gab es diesbezüglich keine Besserung - kann ich jetzt aposteriori sagen. Erst nach dem bewussten Hineingehen in die Traumszenarien (wobei nicht einmal Luzidität, sondern bloss eine innere Bereitschaft zum Handeln in eigener Verantwortung vonnöten war bzw. eine Abkehr vom Standpunkt des nur Beobachtenden), änderte sich die Situation nach und nach grundlegend. Und nur auf diese Weise lernte ich, dass sich Vorstellungs- und Bewusstseinsinhalte ohne weiteres ständig ändern können, ohne dass dabei die Kontinuität des Ichs, die Bewusstheit, betroffen wird. Zentrum und Peripherie des Zyklons erwiesen sich zwar als aufeinander bezüglich und voneinander abhängig, aber das Zentrum zeigte sich mit einem Male als von ebenso grosser Bedeutung wie die Peripherie. Ich will hier bewusst keine Wertung machen und sagen, das Zentrum sei bedeutender, weil sonst nur dort wieder eine Gegensätzlichkeit aufgerissen wird, wo eigentlich gar keine ist. Eine Zeitlang mag es wichtig sein, (kompensatorisch) das Zentrum mehr als die Peripherie zu betonen, doch mit der Zeit wird sich der Transparenz- und Durchflutungscharakter des Zentrums im Hinblick auf die Peripherie mehr in den Vordergrund drängen.

Ich bin jetzt im "Der Spiegel im Spiegel" erst auf Seite 66 angelangt. Aber ich will meine ersten Eindrücke jetzt schon nach München übersenden. Ich habe Sie ja gewarnt, ich habe Zeit und schreibe gerne ellenlange Briefe. Denn jede Formulierung klärt auch bei mir die unterschiedlichsten Dinge. Und wenn es wie bei Ihnen zu einer Wechselwirkung kommt, dann bringt mich das einen gehörigen Schritt weiter, denn für mich ist jedes Gespräch eine totale Herausforderung. Und falls es mir dabei gelingt, bis an die Grenze vorzustossen, dann ist der Schritt auf die andere Seite und damit in einen neuartigen Erkenntnisbereich hinein nur noch eine Frage des Mutes und der Selbstkritik.

Nun werde ich in Ihrem Buch gemütlich weiterlesen und versuchen, das zu erkennen, was bei mir beim Lesen Ihrer Zeilen geschieht. Ob sich daraus eine Intersubjektivität ergibt, wird Ihre Replik erweisen.

Vorläufig also mit herzlichen Grüssen

Werner Zurfluh


1.9.88

Lieber Werner Zurfluh,

ich habe mich ganz "unendlich" über Ihren Brief zum "Spiegel im Spiegel" gefreut. Sie haben in allen Punkten den Nagel auf den Kopf getroffen, vor allem mit Ihren kritischen Anmerkungen.

Bin gerade mit einem Fuss auf der Reise, nach dem 5. September bin ich zurück und antworte Ihnen ausführlich.

Herzlich

Michael Ende


Arosa, 28.08.1988

Lieber Michael Ende,

Sie werden es geahnt haben - nach dem letzten Brief und dem Absatz über das Ich (wobei ich nie das Ego meine, d.h. ein mit irgendwelchen Inhalten identisches oder sich identifizierendes Ich, sondern stets das Ich gewissermassen als das Selbst im Zentrum des Zyklons) -, geahnt, dass für mich das verlorene/gesuchte Wort in der nächsten Geschichte ICH heisst. Erschütternd war dann die Tötung der Lichtträger. Vielleicht in Anbetracht der Vielzähligkeit der Fackelträger eine Notwendigkeit, damit dann die langvorbereitete Inkarnation gebilligt werden kann. Hier kommen aber für mich "erstmals" in Ihrem Buch ganz massiv kollektive Kräfte ins Spiel, deren Zusammenprall wegen der schlafenden und damit in diesem gigantesken Rahmen völlig unbewussten Frau nicht bei klarem Bewusstsein erfasst werden kann. Ungemütlich ist dabei (für mich) die Tatsache, dass es sich hier um ein Sammelsurium von Konstrukten (tiefenpsychologisch ausgedrückt: von Energien des kollektiven Bewusstseins und Energien des kollektiven Unbewussten) handelt, deren Verflechtung innerhalb eines übergeordneten architektonischen Gebildes beinahe bis zur vollständigen Erstarrung fortgeschritten ist. Dadurch können die noch ungeordneten Lebenstrukturen im Gefäss sich nicht dissipativ strukturieren, selstorganisieren. Statt dessen werden sie in ihren wesentlichen Teilen gefressen und ihre Trägerin wird sogar getötet. Teufel und Engel stehen einander wie absolut unvereinbare Gegensätze gegenüber. Diese Geschichte beinhaltet noch einiges an Problemen - und die werden bestimmt in irgendeiner Form wiederauftauchen. Unter anderem auch die Frage nach der Konfessionalität und der Religiosität innerhalb und ausserhalb unserer Gesellschaft.

Auch die Frau als Gebärerin schläft - wo bleibt ihre Luzidität? Der mögliche Träger eines knabenhaften männlichen Bewusstseinsprinzips ist tot(geboren). Das Weibliche erscheint chtonisch, naturhaft automatisiert wie ein Erdrutsch, der unaufhaltsam zu Tale strömt. Ihr Mann dionysisch, brutal, schlächterisch, stur und verständnislos, unreflektierend. Wiederum dieser auseinanderklaffende Gegensatz wie bei der vorherigen Geschichte. Tötung aus Unwissenheit! Leben aus Unbewusstheit! Eine unglaubliche und schrecklich geradlinige Logik liegt in diesen Geschichten.

Auf diese Weise wird die Welt zweidimensional, sie verliert ihre Kugelform, ist eine Platte ohne eigentliches, ohne inhaltsloses Gravitationszentrum. Das Ich ist (statt dessen) nunmehr Zentrum einer (Ober)Fläche - bis zu dem Moment, wo die grosse Erschütterung stattfindet und das Ego dem (wahren) ICH begegnet! Möge der Spalt sich niemals schliessen! Muss ich Ihnen sagen, dass er sich bei mir niemals mehr geschlossen hat!? Vielleicht deshalb, weil ich noch eine vierte Chance hatte - oder weil ich ein aufmüpfiger, anpassungsunfähiger Motzer bin. Sollte er sich aber bei Ihnen tatsächlich einmal wieder geschlossen haben, so seien Sie dessen versichert, dass auch die blaue Blume alle paar Tausend Jahre wieder in Erscheinung tritt. Und Zeitepochen sind stets als geistig-seelische Zeiträume aufzufassen und haben mit einer äusseren Zeitmessung aber auch gar nichts zu tun.

Und weiter geht's am 2.9.88:

Draussen schneit es ununterbrochen. Die Dächer sind mit nassem Schnee weiss übertüncht, die Äste der Laubbäume hängen schwer herunter, selbst manche Tannenwipfel neigen sich unter der Last. Auf den Strassen liegt Pflotsch (Schneematsch), die Radspuren der Autos ziehen breite Bahnen, die Scheibenwischer räumen die weisse Last unwillig zur Seite und die Menschen tappen mit aufgespannten Schirmen mit kurzen Schritten unter den vorspringenden Dächern, wo kein Schnee liegt, dahin. Die letzten Tage habe ich nicht mehr im "Spiegel" gelesen, dafür programmiert (ein Hint-Programm für Adventure-Games mit Menüs, Formularen und Windowing in Modula-2), bin mit meiner Frau in sieben Stunden nach Davos gelaufen (das sonstige Laufpensum von täglich zwei bis drei Stunden wurde deswegen nicht fallengelassen) und habe sonst noch diesen oder jenen Brief geschrieben.

Und jetzt geht's weiter im Text. Ich habe mir die letzten Tage manchmal sagen müssen: "Du hast dieses Buch noch nie gelesen, auch wenn du meinst, die Geschichten seien dir allesamt bestens bekannt!" Die Erinnerung ist dennoch zu mächtig, zu deutlich, die durchschimmernde Sorge zu gegenwärtig, der Gedanke an all die endlosen Reisen zu schmerzlich, auch jene Reisen oder jene Reise, "die mich alles gekostet hat, was ich mir in all den Jahren erworben, erkämpft, erlitten habe" (S.103). Ja, was habe ich denn erwartet?

Aber dann 'trennt' sich mein Erleben scheinbar von dem Ihren bzw. von Ihrer Geschichte, denn ich weiss mich zu Hause, auch wenn es kein Zuhause ist, ich bin in der Dunkelheit und Leere, obwohl sie lichtdurchflutet und voller Fülle scheint (dies ist ein wenig idealisiert ausgedrückt). Nein, eigentlich zurückkehren kann niemand, der äusserlich nicht mehr derselbe ist und gelernt hat, das Akzidentielle vom Wesentlichen zu unterscheiden. Denn wohin sollte er zurückkehren? Für Wissen ist es niemals zu spät und Zeitmessung ist überflüssig. (Nebenbei gesagt: Ich trage seit etwa zwei Jahrzehnten keine Uhr mehr am Handgelenk - und habe auch keine Taschenuhr.) Für mich wurde die Nacht zum Tage. Wunderhübsch dann: "Und während er es denkt, begreift er, dass er selbst es ist, der die Welt um sich erschaffen muss, damit sie da ist" (S.104). Ein Merksatz des radikalen Konstruktivismus, ein Lichtschimmer am Horizont! - Was dann kommt, dazu bedarf es der Tiefenpsychologie, dazu ist sie auch nützlich (trotz aller Vorbehalte). Mir hat es jedenfalls ungemein geholfen, dank C.G.Jung (und Sigi Freud) Kenntnisse über Anima, Schatten, psychische Strukturen, Verdrängung, Projektion, Kompensation, Instinkthaftigkeit, Katharsis, Kollektivität und Schuld vermittelt bekommen zu haben. Nach all dem Psychologischen aber konnte meine Heimkehr zum Psychischen erst beginnen, hatte meine Anima aufgehört zu stricken (Wortsinn!) und wurden die ersten schlagenden Schwingenpaare wieder sichtbar. Aber - so muss ich mich heute fragen - wäre ich selber überhaupt jemals zum Engeltöter geworden, wenn ich mich nicht auf Wissenschaft und Psychologie eingelassen hätte. Aber dazu hätte ich wohl gar nicht erst geboren werden dürfen.

Zwei Seiten sind geschrieben, die Wolkenschicht hat sich gehoben, die ersten weissen Bergkämme sind sichtbar und bald wird meine Frau von ihrer seit dem 1.September wiederaufgenommenen Arbeit beim Bankverein nach Hause kommen. Und dann wird der obligate Tippel durchzuführen sein.

Vorläufig also mit lieben Grüssen

Werner Zurfluh


11./13.9.88

Lieber Werner Zurfluh,

heute, am Sonntagnachmittag, habe ich nun endlich ein paar Stunden Zeit, um Ihnen auf Ihre Briefe zu antworten, mit denen Sie mir wirklich ganz große Freude gemacht haben. Mit so viel Verständnis hat gewiß bisher noch niemand den "Spiegel im Spiegel" gelesen. Ich möchte auf die Gedanken, die Sie dazu geäußert haben, später noch zurückkommen. Vorerst will ich Sie nur noch auf einen Umstand aufmerksam machen: Nehmen Sie bitte die Geschichten in diesem Buch nicht zu sehr als autobiographische Mitteilungen meinerseits. Im Grunde handelt es sich auch nicht um den Versuchf die "andere" Wirklichkeit möglichst getreu zu schildern. Vielmehr wollte ich einen Vorstoß wagen in der Richtung, in der die moderne Musik oder die moderne Malerei schon längst viel weiter gegangen war als die erzählende Literatur. Selbst in der Lyrik und in der Dramatik ist man schon seit Jahrzehnten zu Formen gekommen, die nichts mehr "abbilden", sondern für sich selbst stehen, ihre eigene Wirklichkeit haben wie ein Bild von Klee. lch wollte versuchen, Geschichten zu schreiben, die man lesen sollte, wie man moderne Musik hört oder wie man ein Mobile von Calder betrachtet. Natürlich setzt das auch eine andere Bewußtseinshaltung und ein sich Loslösen von traditionellen Erwartungen voraus. Was ich sagen will, ist dies: Es waren hauptsächlich künstlerisch-formale Fragen, die mich zum Schreiben dieses Buches veranlaßten, nicht so sehr das Bedürfnis, mich selbst mitzuteilen. Natürlich benützt man die eigenen Erfahrungen als Material dazu - ein anderes hat ja der Schriftsteller nicht - aber es ist eben ein Unterschied in der Bearbeitung dieses Materials. Man kann es handwerklich benützen, so wie der Bildhauer den Stein, das Holz oder den Ton, oder man kann es, was heute ja allgemein üblich ist, benützen, um zu sagen "wo es einem weh tut" etc. (Rilke). Meine Auffassung geht hier mehr in die Richtung der mittelalterlichen Meister, die ja zum Teil sogar völlig namenlos geblieben sind. Ich nenne es die "shakespearsche Haltung", weil Shakespeare ja völlig hinter seinen Stücken verschwindet. Er selbst spricht nicht, er läßt seine Figuren sprechen. Und das nicht etwa, weil er sich verstecken will, sondern aus künstlerischer und handwerklicher Redlichkeit.

Ich erkläre das nur, weil ich denke, es wird für unseren zukünftigen Dialog von Nutzen sein, wenn Sie berücksichtigen, daß ich kein Psychologe, kein Wissenschaftler, kein Philosoph, überhaupt kein Erkenntnismensch bin, sondern daß das Grundkonzept meines Lebens, all mein Interesse, sozusagen der innere Kompass, der mich bei all meinen Entscheidungen leitet, ein künstlerisch-poetischer ist. Darin liegt eine andere Grundhaltung den Erfahrungen gegenüber als die des nach Erkenntnis strebenden, auch ein anderer Umgang mit Ideen. Wir werden darüber bestimmt im Laufe der Zeit noch genauer sprechen müssen, nur will ich jetzt nicht schon wieder vom Hundertsten ins Tausendste kommen. Jetzt möchte ich nur deutlich machen, daß auch meine Suche nach den nichtalltäglichen Wirklichkeitsebenen in allererster Linie künstlerische Gründe hat. Ich weiß nicht, ob es übertrieben klingt, wenn ich sage: Ich interessiere mich eigentlich nicht sonderlich für mich selbst - nur so um meiner selbst willen. Was mich interessiert ist die Frage, was ich mit meinen Möglichkeiten dazu tun kann, daß wir aus dieser verdammten Kulturmisere wieder herauskommen, in die sich die gesamte "zivilisierte" Menschheit hineinmanövriert hat. Der naturwissenschaftliche, technologische, industrielle Fortschritt ist da und wird weitergehen - aber wenn kein Gegengewicht auf der "anderen" Seite diese Entwicklungen ausbalanziert, dann werden wir immer tiefer in eine buchstäblich mörderische Banalität hineinschlittern, in eine "brave new world" der totalen Wesenlosigkeit und der totalen Bequemlichkeit - oder es kommt eben zu all den oft genug besprochenen Katastrophen. Beides wäre gleichermaßen schlimm.

Nun, Kultur ist ja nicht die Gemeinsamkeit von Meinungen und Ansichten - in einer Kultur können sehr divergierende Meinungen zum Ausdruck kommen - Kultur ist die Gemeinsamkeit einer Lebensgebärde, innerhalb derer die verschiedensten Ansichten Gestalt gewinnen. Deshalb beruht jede mir bekannte Kultur auch nicht auf einer Welt e r k l ä r u n g, sondern hat im Zentrum einen Mythos. Ein Mythos ist ja eine E r z ä h l u n g, in der die ganze Widersprüchlichkeit des Lebens und der Welt nicht aufgelöst, sondern in Bildern dargestellt wird. Eine Zivilisation wie die unsere, die letztlich an eine restlose Erklärbarkeit der Welt und der Lebenstatsachen glaubt, kann per se natürlich keinen wirklichen Mythos in ihrem Zentrum haben. Diese Mythenlosigkeit schließt aber wiederum eine gemeinsame Lebensgebärde aus. Daher das Gefühl einer geradezu kosmischen Einsamkeit, das jeder einzelne heute erlebt. Jeder versucht sich jedem zu erklären, und je mehr man erklärt, desto weniger versteht man einander.

Verstehen Sie mich, bitte, nicht falsch. Ich beklage das nicht. Ich bin vielmehr der Meinung, daß dieses Durchleben des Fokuspunktes, dieses Reduziertsein auf das eigene Bewußtsein, dieser Weltverlust sich mit Notwendigkeit vollziehen mußte. Eben dadurch wurde der Mensch sozusagen selbständig, mündig. Aber man kann natürlich in diesem Fokus- oder Nullpunkt nicht verweilen, sich nicht häuslich darin einrichten. Das würde zu einem vollkommenen Zerfall aller sozialen Strukturen, aller Gemeinsamkeit, ja der Sprache selbst führen (denn auch Sprache gehört ja zu der gemeinsamen Lebensgebärde. Eine Sprache lebt z w i s c h e n Menschen. Eine Sprache, die einer ganz und gar nur für sich allein hätte, wäre gar keine.)

Und genau hier, an dieser Stelle, liegt für mich die Wichtigkeit Ihres Buches und der neuen Wege und Möglichkeiten, die es beschreibt. Alle alten Kulturen wurzelten ja in "anderen" Wirklichkeitsebenen. Tempel, Pyramiden und Dome waren ja Berührungspunkte zwischen dieser und anderen Welten. Alle Lebensformen wurden so eingerichtet, daß sie ständig die Beziehung zu den anderen Wirklichkeiten herstellten. Eine nur diesseitige Kultur hat es meines Wissens nie gegeben und kann es wohl auch nicht geben - nicht weil sie materialistisch, sondern weil sie illusorisch wäre. Sie würde den Anspruch jeder Kultur auf Ganzheit, auf Totalität von vornherein aufgeben, also sich selbst.

Nun hilft es uns aber wenig, auf solche alten Kulturen zurückzublicken, weil wir inzwischen vor Fragen stehen, vor denen die Menschheit noch nie bisher gestanden hat. Alle alten Kulturen beziehen ihren Mythos, ihre Gemeinsamkeit aus etwas - wie soll ich sagen - Genetischem, Instiktivem, aus einer körperlichen Volks-, Stammes- oder sogar Familienzugehörigkeit. Sie sind vor-individuell. Das Einzelbewußtsein spielt kaum eine Rolle. Daher auch das eigentümlich Überlebensgroße, Allgemeine, Unindividuelle aller mythischen Figuren. Eine Kultur freier, selbständiger Individualitäten hat es bisher noch nie gegeben. Zunächst erscheint soetwas ja geradezu als eine Unmöglichkeit, ein Paradoxon: Wie kann es die gemeinsame Lebensgebärde vieler Einzelner geben? Auf der anderen Seite gibt es kein Zurück mehr. Wie verheerend sich der Versuch auswirken muß, den heutigen Menschen wieder in Volks- oder Rassezusammenhänge zu integrieren, hat sich ja am Nazismus gezeigt. Was vor 2000 Jahren gut war, wirkt heute dämonisch. So ist es ja überhaupt mit Gut und Böse. Aber das ist nicht die einzige Tendenz, den Menschen zu entindividualisieren. Viele andere Systeme wollen es auf andere Weise erreichen, weil sie alle mit der Frege nicht fertig werden, wie es eine Gesellschaft oder Kultur freier Individualitäten geben soll.

13.9.88

Beim Durchlesen dessen, was ich da vorgestern geschrieben habe, erschrecke ich etwas über den akademischen, rechthaberischen Tonfall. Es ist mein alter Fehler, etwas in wenigen Sätzen erklären zu wollen, wozu man sich viel Zeit (und Papier) nehmen müßte. Außerdem weiß ich gar nicht, ob diese ganzen Überlegungen für Sie überhaupt von Interesse sind. Wenn ja, fassen Sie bitte nachl Da ich eigentlich auf eine ganz persönliche Frage kommen möchte, will ich den vorigen Faden jetzt so kurz wie möglich abschneiden: Ich bin durchaus der Meinung,daß die Lösung des Paradoxes möglich ist, d.h. daß es eine gemeinsame Lebensgebärde, sprich Kultur, vieler Individualitäten geben kann, daß es unsere Aufgabe ist, sie zu er-finden oder sie wenigstens vorzubereiten. (Vielleicht oder wahrscheinlich werden vorher noch einige Katastrophen zu durchleben sein, die vor allem die ökonomischen Grundlagen unserer Gesellscheft auf ganz andere Füße stellen - auch das ein eigenes Thema !) Was Sie in Ihrem Buch an Erfahrungen beschreiben, erscheint mir als der Anfang, das Erwachen einer ganz neuen Seelenfähigkeit. Ihr Vorschlag, das Klarträumen als Unterrichtsfach in künftige Schulen einzuführen, entzückt mich. Mein Gott, was für ein begeisterter Schüler wäre ich da gewesen ! In meinen Schulen hat man uns das Träumen gründlich abzugewöhnen versucht. In dem, was Sie beschreiben, fällt das völlig Individuelle und der erlebte Mythos in eines zusammen. Genau darum geht es. Und genau da liegen auch die Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der modernen Kunst, Musik, Literatur. Deswegen schrieb ich, diese Sache sei für mich u n a u s w e i c h l i c h. Nicht so sehr (oder jedenfalls nicht in erster Linie) aus persönlichen Gründen, sondern viel mehr noch aus beruflichen - wobei ich Beruf hier durchaus im Sinne einer Leebensaufgabe verstehe.

Und nun möchte ich also endlich zur Sache kommen und Sie nach einigen Dingen fragen, um derentwillen ich mich ja mit der Bitte um Unterweisung an Sie gewendet habe. Es handelt sich also um das Erlernen des Klarträumens oder sogar der außerkörperlichen Erfahrung.

Ich befinde mich da in einer sonderbaren Situation. Ich sitze seit Jahren, oder besser gesagt seit Jahrzehnten (ich bin fast sechzig) sozusagen festgebannt auf der Schwelle zwischen beiden Wirklichkeiten. Eine Rückkehr in den naiven Glauben an die Alltagsrealität ist mir nicht möglich. Es macht mich oft geradezu ratlos vor Erstaunen, wie fraglos viele Menschen diese Alltagsrealität "für bare Münze" nehmen. Trotzdem ist mir der Schritt zu einem wirklichen Wachwerden auf der anderen Seite der Schwelle bisher nie gelungen. Ich sollte vielleicht der Klarheit halber hinzufügen, daß ich durchaus Übungen gemacht habe - am längsten wohl die von Steiner angegebenen, aber auch andere. Drogen habe ich allerdings nie benutzt. Alle diese Übungen haben bei mir überhaupt nichts in Bewegung gebracht, im Gegenteil, mein Traumleben intensivierte sich nicht, sondern begann durch besagte Konzentrations- und Meditationsübungen geradezu abzuwelken. Ich kenne Leute, die Steiners Meditationssprüche seit vierzig Jahren täglich üben. Auf meine gespannte Frage "Und?", antwortete man mir, daß die Sprüche nun allmählich anfingen zu leuchten. Darauf antwortete ich, daß vermutlich auch das Telefonbuch anfängt zu leuchten, wenn man es vierzig Jahre lang meditiert.

Was sich durch alles das bei mir eingestellt hat, ist eine tiefe Entmutigung. Sie verstehen, daß das kein Mangel an Mut ist. Ich bin zwar gewiß kein "makelloser Krieger" im Sinne des alten Don Juan, aber ich bin kein Feigling. Ich sage das nicht leichtfertig. Im Grunde weiß man ja nie, ob man Mut hat oder nicht, ehe man nicht in Situationen gekommen ist, in denen sich das herausstellt. Und ich habe etliche Situationen erlebt, in denen ich - zu meiner eigenen Überraschung übrigens - durchaus Mut an den Tag legte. Aber Entmutigung ist etwas anderes. Auch die größte Ausdauer erlahmt irgendwann, wenn sich niemals irgend ein ermutigendes Erlebnis einstellt. Manchmal ist es geradezu grotesk: Sogar Leuten, die an die "andere" Wirklichkeit nicht glauben oder noch nicht einmal etwas von ihr wissen wollen, widerfahren alle möglichen Erlebnisse dieser Art, mir nie ! Ich sitze bombenfest wie ein Backenzahn in meinem physischen Körper und in der Alltagsrealität. Theoretische, esoterisch-philosophische Lehren helfen mir da nicht weiter. Ich habe eine Menge davon studiert - mit heißem Bemühn - Anthroposophie, Theosophie, Kabbala, Alchemie, Zen, Eliphas Levi und sogar so abwegige Leute wie Crowley und Gurdjew. Darüber weiß ich ziemlich gut bescheid und könnte mühelos wie White Eagle oder Bo-yin-Ra oder Herr Heindel (Rosenkreuzer) aus dem Zusammengelesenen eine eigene mystische Sekte aufmachen. Die meisten Lehrer auf diesem Gebiet fordern vom Schüler, daß er erst einmal ein makelloser, tugendhafter, asketischer Mensch werden muß, ehe er mit Ergebnissen selbst undeutlichster Art überhaupt rechnen darf. Nun, ich bin das alles nicht, ich rauche Pfeife und trinke auch mal ganz gern mit Freunden ein paar Flaschen Wein. Ich habe auch am Sex Vergnügen und an anderen Gaben dieser Welt. Ich könnte auf alles, wirklich auf a l l e s das verzichten, wenn Erfahrungen der "anderen" Wirklichkeit mich über diese Notwendigkeit belehren würden. Aber erst müßte sich irgend ein Ansatzpunkt ergeben. Ich kann einfach nicht glauben, daß die "andere" Wirklichkeit so zimperlich ist, daß man erst einmal ein temperamentloser, unsinnlicher Softy werden muß, um den ersten Zutritt zu erhalten. Aber ich erhalte ihn nicht. Was mache ich falsch?

In Ihrem Buch schreiben Sie - was mir übrigens sehr einleuchtet - daß nach Ihrer Erfahrung das größte Hindernis in gewissen vorgefaßten Meinungen über die Existenz oder Nichtexistenz, oder ganz generell über die Beschaffenheit der nichtalltäglichen Wirklichkeit liegt. Ich habe sehr ernsthaft überlegt.

Ich glaube nicht, daß meine Schwierigkeit hier liegt. Die Existenz der nichtalltäglichen Wirklichkeit war mir eigentlich von Kindheit an völlig fraglos und ist es bis heute geblieben. Im Gegenteil, wie schon gesagt, war es für mich immer die alltägliche Wirklichkeit, die mir fragwürdig vorkam. Ich hatte und habe sogar zeitlebens soetwas wie Heimweh nach der "anderen" Wirklichkeit, ein Gefühl der Verbannung aus meiner eigentlichen Heimat in diese äußere Welt. Ein naturwissenschaftliches Weltbild kann es nicht sein, was mich hindert. Ich habe nicht studiert und meine Auseinandersetzung mit Naturwissenschaft und Psychologie hat aus mir keinen "Gläubigen der Wissenschaftskirche" (Paul Feyerabend) gemacht. Die offenen magischen Weltvorstellungen lagen mir immer näher und schienen mir die Lebenswirklichkeit besser zu fassen. Vergessen Sie auch nicht, daß ich in Malerateliers aufgewachsen bin als Sohn eines Surrealisten, was von Haus aus schon dazu predestiniert, das Wunderbare und Geheimnisvolle für wesentlich wichtiger zu halten, als alle banalen Erklärungsversuche der Exegeten. Nein, von dieser Seite her bin ich, wie mir scheinen will, ganz offen und unvoreingenommen.

Aber woran liegt es dann? Haben Sie einen Rat für mich?

Bei Ihnen ergaben sich die ersten Erfahrungen spontan, wie Sie schreiben. Wie ich Sie darum beneide ! (Ich höre Sie jetzt murmeln: "Wenn du wüßtest, mein Lieber..." Trotzdem. Ich beneide Sie darum.) Aber solchen spontanen Erfahrungen sind wohl schicksalhaft-karmisch. Und mein Karma scheint eben anderer Meinung zu sein als ich. Glauben Sie, ich muß mich damit abfinden, daß ich vor meinem Tode keinen b e w u ß t e n Zugang zur "anderen"Wirklichkeit bekomme? Oder können Sie mir in irgend einer Weise helfen?

Ich grüße Sie herzlich

Michael Ende

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