Heino Gehrts
Vom Schlaf im Märchen (2. Teil)


in: Von der Wirklichkeit der Märchen
(Regensburg: Röth, 1992:.117-135)


(Ohne Anmerkungen und Literaturhinweise
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Teil 1

[177] Wir haben eingangs von dem unerwarteten Schlafe des Drachenkämpfers gesprochen und sind durch ihn darauf geführt worden, daß der Märchenschlaf durchaus nicht den Nachtschlaf zu bedeuten braucht. Wir kommen auf den möglichen Sinn seines Schlafes zurück, wollen uns zuvor jedoch noch deutlicher der besonderen Natur des Märchenschlafes vergewissern. Für ein bestimmtes Märchen, das von den zertanzten Schuhen, habe ich schon früher mit Sicherheit, wie ich glaube, den hypnoiden oder somnambulischen Charakter der dort geschlafenen Schläfe nachgewiesen und den merkwürdigen Sinn einiger in ihm verwendeten Symbole entschlüsselt.

Es handelt sich ursprünglich um eine Königstochter und um ihre nicht leibhaft zu denkende Geleiterin. Sie verfällt allnächtlich in Schläfe mit tieferregenden Erlebnissen, von denen ihr nur eine vage Erinnerung - und möglicherweise eine gewisse Ermattung - im Wachen verbleibt. Die Falltür unter dem Bett ist das Symbol für den «doppelten Boden» ihres Schlafes, die zertanzten Schuhe das Zeichen für eine dunkle Ahnung vom Durchlebten und für die Mitbezogenheit des Leibes in dem Entrückungserlebnis. Die Bedingung für die Aufhellung der Schlaferlebnisse ist, daß der Königstochter eine andere Person in den Schlaf zu folgen vermag, daß diese Person imstande ist, die Erinnerung an das Durchlebte zu bewahren, und daß sie die Prinzessin zu einer Bestätigung dieser Erinnerungen befähigen oder [118] zwingen kann.

Das Vermögen, einem anderen in seine somnambulischen Erlebnisse zu folgen, ist ein schamanisches; das Märchen symbolisiert es durch den Unsichtbarkeitsmantel oder -stab, den der Erlöser von einem ratenden Wesen erhält. Sein Erinnerungsvermögen wird durch den Ranzen ausgedrückt, in den er die Jenseitssouvenire hineinsteckt. Die Möglichkeit, in der Königstochter selbst die bestätigende Erinnerung zu wecken, verschafft er sich dadurch, daß er jedesmal, wenn er sich eines Erinnerungszeichens bemächtigt, also etwa des Zweiges aus dem metallenen Jenseitswalde, die Prinzessin so erschreckt, daß sie an die Grenze ihres Wachbewußtseins gerät - man darf diesen Kunstgriff geradezu eine posthypnotische Suggestion nennen.

Der erfolgreiche Bursche ist der letzte von einer Reihe von Freiern, die sich an diesen Nachtfahrten versucht haben. Doch die Vorgänger haben versagt, sie sind in den gewöhnlichen Nachtschlaf verfallen, wußten der Prinzessin nicht zu folgen und ihr Geheimnis zu entschleiern und sind darum, der von vornherein gestellten Bedingung gemäß, am nächsten Morgen hingerichtet worden. Auch der letzte Freier steht also nach den drei Nächten, da er das Geheimnis enthüllen soll, unter einer Todesdrohung, ja, er läßt es in der dänischen Fassung absichtlich bis dahin kommen, wo er auf dem Hochgericht steht und nur noch einen Wunsch frei hat, nämlich das zu erzählen, was ihn in der letzten Nacht angeblich nur geträumt hat. Nun aber öffnet er seinen Ranzen und packt aus, die wunderbaren Zweige aus den Metallwäldern, den kostbaren Becher von der Tafelei drunten, die zerfetzten Tanzschuhe aus dem Trollenwirbel, und die Prinzessin kann nicht umhin, die Richtigkeit seiner «Erinnerungen» zu bestätigen.

In aller Kürze läßt sich zu diesem Märchen also sagen, daß die Prinzessin eine heilungsbedürftige Somnambule sei und daß der Freier das schamanische Vermögen besitze, die Einheit ihres seelischen Erlebens wieder herzustellen.

Nun gehört allerdings die Gesamthandlung des Märchens, die gemäß dieser Deutung etwas klinisch-dürftig erscheinen könnte, in Wirklichkeit in einen weit ausschwingenden Rahmen, der dem bloßen Heilungsvorgang erst seinen umfassenden, eigentlich märchenhaften Sinn verleiht. Die somnambulischen Schläfe der Königstochter sind nicht etwa als solche heilungsbedürftig, und die todbedrohten nächtlichen Exkursionen des Freiers sind nicht etwa bloß abgenötigte Heilungsversuche, deren er in der Brautschaft mit einem «gesunden» Mädchen entraten könnte. Sondern, wie zahlreiche andere Märchentypen es lehren, der zum Königtum Berufene muß stets solche zauberhaft-schamanischen Begabungen, die Begabung zum Hellschlaf nachweisen, um zur Königsbraut und zum Königtum zugelassen zu werden.

wz: Der neue König, bringt das "waste land" dank seiner Ich-Bewußstseinskontinuität (BK) wieder zum Erblühen, so daß schließlich die "Früchte des Erinnerungsvermögens" eingebracht werden können, was die vormals getrennten Welten zu einer einzigen Wirklichkeit in einer gegenseitigen Wechselbeziehung verbindet.

Und die Fähigkeit der [119] Konigstochter zur Fahrt nach drüben und zum Tanz mit den Geistern ist nicht an sich krankhaft, sondern nur dadurch, daß dem eigentlichen Sinne des Märchens nach sie diese Fähigkeit nicht beherrscht und der Inhalt der Exkursionen ihrem Wachbewußtsein verschlossen bleibt - bis zu dem Tage, wo der schamanisch begabtere Begleiter die Kontinuität des Bewußtseins für sie herstellt und befestigt. Dergestalt gewinnen sie beide die Potenz zum Königtum - und nur «zufällig» in diesem Typus auf dem Wege über eine «Insuffizienz», über die noch nicht ausgereifte Begabung der Prinzessin.


Es schließt sich hieran füglich die Besprechung einer Motivfolge in dem Typus 400, die man als das verschlafene Stelldichein bezeichnen kann. Durch sie entsteht ein sinnvoll zusammenhängender Untertypus, den ich A nenne und dem ein zweiter Untertypus B mit sinnvollen Abwandlungen jener Motivkette entspricht. In beiden Untertypen erlöst der Held durch drei Qualennächte eine Prinzessin; in dem zweiten, also in B, findet auch die Hochzeit sogleich an Ort und Stelle statt, und erst danach tritt ein Rückschlag ein, aus dem die für die Märchenhandlung typische Zweiteilung des Ablaufes hervorgeht. Hingegen folgt in dem zunächst zu besprechenden Verlauf A die Cäsur unmittelbar auf die Erlösung, und zwar herbeigeführt durch eine höchst seltsame, innerhalb des Märchens ganz unverständliche Veranstaltung der Erlösten.

Offenbar sind die erlittenen Peinigungen allein nicht ausreichend, um eine Vereinigung des Paares herbeizuführen; es scheint so, als bedürfe es dazu noch einer gemeinsamen Reise in das Reich der Königstochter. Diese für ein Tatsachendenken noch verständliche Bedingung wird aber durch die Art des Reiseantritts zu einem höchst rätselhaften Unternehmen. Denn man bricht aus dem erlösten Schlosse nicht etwa gemeinsam auf, sondern die Prinzessin bestimmt dazu ein Stelldichein, bei dem sie mit einem Wagen erscheinen wird, während der Erlöser sie an einer bestimmten Stelle zu einem bestimmten Zeitpunkt - im ursprünglichen Verstande wohl am hohen Mittag - erwarten soll. Diese Begegnung und die Gefahr, sie zu verpassen, waren für den Erzähler der Grimmschen Variante «Die Rabe» so entscheidend, daß die Qualennächte in dieser Fassung überhaupt entfallen sind und das Zustandekommen der Begegnung allein die Erlösung bringen soll. In allen Fassungen aber mißlingt die Aufnahme des Mannes in den Wagen der Braut, weil er einem Zwangsschlaf verfällt - gegen die von ihr gestellte Bedingung, daß er wachend sein müsse und gegen ihre Warnung vor Essen, Trinken, Berührung.

Es ist nun höchst [120] merkwürdig, daß der Schlafzwang über den Helden nicht etwa von einer Hauptperson verhängt wird - sondern dieser Eingriff wird meist einer Person zugeschrieben, einer Hexe, die in dem Märchen nur diese eine Funktion hat, die weder vor- noch nachher erwähnt wird und deren Beweggründe überhaupt nicht oder nur höchst beiläufig angezeigt werden, oder mit anderen Worten: diese Rolle stellt weiter nichts dar als den Zwangsschlaf oder den Schlafzwang.

wz: Es ist unbedingt zu beachten, daß dieser Schlafzwang einem Vorstellungskreis entspricht, der besagt, das Ich sei prinzipiell mit dem physischen Körper identisch. Diesem "Identitäts-Paradigma" verfällt der Mensch im Moment des 'Zu-Bett-Gehens' bzw. beim Einschlafen erziehungsbedingt sozusagen automatisch. Statt bloß den Körper ruhen zu lassen, verfällt das bewußte Ich dem Schlaf und gleitet damit ins Vergessen ab.

Es ist nun aber bemerkenswert, daß in einigen Fassungen auch das Wachen von einer ansonsten funktionslosen oder funktionsarmen Nebenperson dargestellt wird, nämlich von einem Diener. Bedenken wir, wie selten der Märchenheld mit einem Gefolgsmann, einem Knappen oder Diener ausgestattet wird, daß aber dieser, wenn er vorkommt, höchst wichtige Funktionen hat: die sechs Diener, der treue Johannes, der hilfreiche Tote - so werden wir mit Sicherheit annehmen, daß die Wachheit des Dieners neben dem schlafverfallenen Herrn und der Schlafzauber der Hexe gegen den mit seiner Schlafsucht ringenden Helden die Pole eines Spannungsfeldes bezeichnen, auf dem etwas Entscheidendes (wz: nämlich die BK) verwirklicht werden sollte, doch nicht zu verwirklichen ist.

Nebenher sei bemerkt, daß Wachheit und Schlafzauber auch in einer einzigen Person vertreten sein können und daß dann die Prinzessin über den wachen Schurken mit dem künftig erwachenden Helden verkehren muß, ohne daß der Verräter die Botschaft versteht. So läßt im Siebenbürgener Märchen die Braut dem Erlöser durch den Diener melden, er solle dem ersten Baum, dessen er nach dem Erwachen ansichtig werde, die Krone abschlagen, was der Held, als er ringsum keinen eigentlichen Baum gewahrt, richtig auf den verräterischen Diener bezieht und mit dessen Enthauptung vollzieht.

Nachdem die Herstellung der Verbindung mißglückt ist, findet sich der Held wie in anderen Märchen genötigt, eine Suchfahrt im Raume anzutreten, an deren Ziel, nach Berühren mehrerer Stationen und Überwinden fast unbezwinglicher Raumesweiten, die Stadt der Prinzessin erreicht wird und die Hochzeit vonstatten geht.

Was bedeutet nun, im Gegensatz zu der Weltreise des Jünglings, der Versuch der Braut, ihn von vornherein im Wagen aufzunehmen und mit ihm gemeinsam heimzureisen, ein Vorhaben, das der Schlaf des Helden durchkreuzt? Erklärungsbedürftig ist nicht so sehr dieser Zwangsschlaf als jenes Wachen, in dem die Begegnung hätte gelingen können. Ich zweifle indessen nicht daran, daß dieses Wachen nicht das gewöhnliche Tagwachen ist, sondern der Hell- oder Hochschlaf, der von innen erleuchtete somnambulische Schlafzustand, in dem sich eine seelische Begegnung verwirklichen kann, ein Zusammenkommen, dessen Folge die Entrückung der Seele des Mannes in die Heimat der Prinzessin (wz: Anderwelt) gewesen wäre. Sinnvollerweise mißglückt indes dieser [121] Versuch, weil nur die Bewältigung des Raumes, die kosmische Fahrt (wz: "Erschließung der spirituellen Dimension") zu einer vollen Verwirklichung, zu einer wahren Hochzeit und Vermählung führen kann.

Das Ringen des Helden inmitten zwischen der Hexe des Schlafes und dem Diener des Wachseins hat also diesen Sinn, daß er zwischen der Wachheit des Alltags und dem dumpfen Schlafe der Nacht den Zustand des seele-erhellten Hochschlafes zu treffen sucht, einer allverbundenen Wachheit, die das Ziel aller Kontemplation, aller Versenkung ist, die aber in unserem Märchen verfehlt wird.

Wenn wir bedenken, wie außerordentlich oft Held oder Heldin im Märchen zu einer Weltreise genötigt sind, um das sich zu eigen zu machen. wovon sie sagen können: Ich besaß es doch einmal! - dann dürfen wir schließen, daß es sich bei zahllosen Begegnungen der Märchen allein um ein seelisches Zusammentreffen handelt, dem immer das leibliche als eigentlich angestrebte Verwirklichung noch folgen muß.

Nehmen wir die Gegebenheiten märchenhaften Erzählens hin und sehen wir bei der Königstochter von dem allerdings erklärungsbedürftigen Erlösungsmotiv und der Entwandlung aus der Tiergestalt ab, so könnte man ihre Abreise mit dem Wagen als eine im Raume vonstatten gehende Fahrt und sie selbst als menschliches Wesen ansehen, so wie etwa das erlöste Dornröschen nach der Entzauberung ganz menschliche Geschicke erleidet.

In dem anderen Untertyp von AT 400, dem wir uns jetzt zuwenden, wird indes unmißverständlich klargestellt, daß die Prinzessin, ob nun menschlichen oder jenseitigen Wesens, gleichviel, jedenfalls nach Geisterart zitiert zu werden und zu erscheinen vermag. Überdies ist es im Hinblick auf den Untertyp A höchst bezeichnend, daß in einer Reihe von Fassungen gerade im Zusammenhang mit jenen Zitationen das Schlafmotiv ebenfalls eine bedeutsame Rolle spielt.

Oben wurde schon gesagt, daß der Erlöser und die Erlöste in dem gleichfalls vom Zauber befreiten Schlosse heiraten und daß sie eine Zeitlang dort leben. Die Verwicklung ergibt sich daraus, daß der Mann auf eine Weile seine Heimat besuchen möchte und daß die Frau ihm dies nur unter Bedingungen verstattet. Erzählerisch sind diese in verschiedener Weise ausgeprägt. In einigen Varianten ist die Forderung ganz umfassend: der Mann darf überhaupt nichts aus der seit dem Abschied von den Eltern verflossenen Zeit erzählen. In anderen Varianten ist der Kreis des nicht zu Sagenden enger gezogen: er soll nur von der Heirat schweigen - oder nicht von der Schönheit der Erlösten sprechen, - ihre Schönheit nicht vergleichen mit dem Aussehen der Frauen daheim - ihr Land, ihr Schloß, sie selbst nicht loben - oder noch entschiedener: nicht sagen, daß sein Weib das schönste unter der Sonne ist. In einer Variante wird dies besonders damit begründet, daß noch Zauber an ihr hafte. Neben all diesen [122] auf das Verschweigen bezogenen Verboten kommt die aufs Wirken bezogene entscheidende Bedingung vor, oder diese gilt auch für sich allein: daß er sie nicht hinter sich herwünschen oder doch nicht ohne Not herbeirufen darf.

Zwar ist ihm das Vermögen dazu in manchen Fassungen in Gestalt eines Wunschringes ausdrücklich verliehen worden, doch kommt ein eigentlicher Notfall in keiner Fassung vor; denn daß der Held durch die Schönheitspreisung für sein Weib die anwesende Adelsfrau beleidigt und sich dann von der Vergeltung ihres Vaters bedroht sieht, ist ja nur die Folge seiner eigenen Unachtsamkeit gegenüber der ihm gesetzten Hauptbedingung. Der Wunschring hat meist dem Helden auch dazu gedient, sich an den Ort seiner Eltern zu versetzen; er geht ihm mit dem Bruch der Bedingung wieder verloren und damit die Fähigkeit, sich entweder erneut in das erlöste Schloß zu versetzen oder sein entwichenes Weib nochmals herbeizuwünschen.

Den Ring nimmt die Frau meist heimlich zurück, und auch sie selbst entweicht zumeist unversehens, in der Hälfte aller verglichenen Fassungen im Schlaf. Es kommt auch vor, daß sie auf die Zitation (wz: Evokation) hin lediglich erscheint und gleich wieder verschwindet. Ein längeres Dableiben oder ein späteres Erscheinen, erst eine Weile nach dem Bruch des Verbotes, bringt aber wesentliche Züge zur Darstellung, vor allem die Rolle des Schlafens.

In zwei holsteinischen Fassungen wird der Mann nach dem Verrat des Geheimnisses müde, in der einen entdeckt er nach dem Erwachen einen Zettel als Zeichen, daß seine Frau unterdes dagewesen ist, in der anderen findet er sie selbst, als er zwischendurch aufwacht, vor sich stehen, in der dritten erscheint die Frau ihm nachts. Es entspricht vollkommen dem Stil des Märchens, daß diese Erscheinungen im Schlafe oder im unterbrochenen Schlummer nicht ausdrücklich von einer leibhaften Anwesenheit unterschieden werden - eben darum, weil ohnehin das Märchen vorwiegend im Bereich der Erscheinungen abrollt. Doch gibt es auch eine tschechische Fassung, in der die Begegnung im Traume erfolgt. Häufig aber nimmt die Szene einen ganz leibhaften Charakter an dadurch, daß der Held in Gegenwart der herbeigerufenen Frau einschläft oder daß sie ihn einschläfert, durch Lausen etwa oder sogar durch einen Schlaftrunk, und es mag von Bedeutung sein, daß diese Schläfe des öfteren draußen, im Garten, in einer Laube, auf einer Wiese, im Walde stattfinden.

In dem Maße, wie in dieser Episode das Geschehen den Anschein der Körperlichkeit annimmt, entschwindet den Erzählern das Empfinden für die Wesensbedingtheit des Ablaufes, und sie verlegen den Antrieb dazu in den Willen des Weibes. Vergessen ist, daß die Verbote im Verhältnis der Naturen des weltseitigen Mannes und des wesenseitigen Weibes begründet sind, und [123] wenn die Frau den Schlafenden, dem Anscheine nach, heimlich verläßt, so kann das nurmehr aus ihrer Willkür, Laune oder Untreue herrühren. Vergessen ist, daß der Mann im hiesigen Dasein ihrer nur als eines erscheinenden Wesens ansichtig werden kann und daß ihr demgemäß die Fähigkeit zu verweilen ganz und gar abgeht. Wo das Verständnis für diesen Hintersinn der Begebenheiten verlorengegangen ist, droht die tradierte Form des Geschehens sich aufzulösen.

Eine extreme Entwicklung stellt sich in einer Böhmerwald-Fassung dar, wo nicht nur der unsichtbare Erlöser bei der Trauung mit dem falschen Hochzeiter die Frau und den Pfarrer ohrfeigt, sondern auch die Frau nach der Wiedererkennung niederkniet und um Haue bittet «bis sie genug hat. Er hat es getan.» Noch weiter geht die Grimmsche Fassung «Der König vom goldenen Berge»; dort heißt es schon vor der Trennung im Schlaf, daß die Frau «Böses im Sinn» hatte, am Ende wird sie Falsche und Betrügerin genannt, und da die Versammlung der «Könige, Fürsten und Räte» den Wiedergekehrten nicht als König anerkennen will, läßt er ihre Köpfe sämtlich mit dem Wunderschwert zur Erde rollen. Von einer Versöhnung mit dem Weib ist hier keine Rede.

In der angeblich türkischen Fassung von Naki Tezel, der Padischah des Goldenen Berges, die weiter nichts ist als eine Nacherzählung des Grimmschen Märchens, findet sich die Massenhinrichtung ebenfalls, aber doch wenigstens insoweit auch eine Rückkehr zum ursprünglich märchenhaften Sinn, als die «Sultanin» selber die Versammlung auffordert, den Heimgekehrten als den wahren Padischah anzuerkennen, und als abschließend das glückliche Zusammenleben der Wiedervereinten vermerkt wird.

Doch ist zu beachten, daß an einer Stelle in diesen Fassungen - trotz der Verständnislosigkeit gegenüber dem eigentlichen Gehalt des Märchens - der alte Sinn noch durchscheint, nämlich dort, wo die Frau zum Erscheinen gebracht wird: da klagt sie in der deutschen Variante und weint und sagt, ihr Mann hätte sie unglücklich gemacht, und der türkische Nacherzähler formuliert demgemäß, daß sie «äußerst verzweifelt» war. Doch findet sich kein Wort, durch das diese Seelennot verständlich gemacht würde, und bei Grimm wird ihr im nächsten Satz schon «Böses im Sinn» zugeschrieben - bei dem türkischen Erzähler allerdings, mit besserer Motivierung, die Absicht, Rache zu nehmen, weil der Gatte nicht Wort gehalten hatte. Es ist bemerkenswert, daß die türkische Nacherzählung sich nicht etwa noch weiter vom Sinn der Urform entfernt, sondern im Gegenteil in den gelinden Abweichungen von der Vorlage zu einer Korrektur der Zerstörungen ansetzt - ein Beispiel für die Regenerationsfähigkeit des Märchens und eine Erklärung für das Bewahren typischer Ablaufsformen auch über längere Zeiträume hinweg. Der Sinn hilft mit beim Erzählerwerk, die Form durch die Zeitläufte zu bewahren.

[124] Bei richtigem Verständnis des Märchens kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Mann gegen die ihm auferlegte Bedingung verstoßen hat und daß nicht er der gekränkte Teil ist. Allerdings hat er sich auch nicht in unserem Sinne schuldig gemacht, sowenig wie der Held in dem anderen Untertyp, der dem Verlangen der Erlösten, ihr «im Schlaf» zu begegnen, nicht genügen konnte. Wie unmöglich auch die Erfüllung der Schweigebedingung ist, wird daran klargemacht, daß er nur den Mund halten muß und daß er in den Qualennächten die Fähigkeit dazu schon zur Genüge bewiesen hat.

Doch das Geheimhalten im lebendigen Alltag, noch dazu als erscheinender König, ist etwas völlig anderes als das Dichthalten der Kiefer unter Gespenstern. Auch ist seine Verfehlung notwendig, denn die Bedingung dafür, daß die Verbindung der beiden Wesen überhaupt vollendet wird, ist die, daß der Mann aus eigenem Vermögen zu dem Weibe hinfindet, und dazu müssen alle geisterhaften Zusammenhänge erst wieder gelöst sein. Anfangs ist er zufällig in das Geisterschloß gelangt, auch wohl von dem abholenden Geiste, dem «Teufel» der Spätfassungen, dorthingetragen worden; zur Heimfahrt ins Elternhaus hat ihn die erlöste Prinzessin befähigt - mit dem Wunschring, mit Wunderpferd oder Zauberwagen -, aber beim Entschwinden beraubt sie ihn regelmäßig dieser Mittel, und was sie ihm läßt, ist nicht mehr als ein Bild für die Aufgabe, koste es, was es wolle, auch an Zeit! sie wieder aufzufinden: die zu verschleißenden Eisenschuhe und der Eisenstab und dazu der Zettel mit ermutigenden oder auch entmutigenden Worten. Es kommt auch einmal vor, symbolisch sehr treffend, daß sie den Wunschring entführt, aber den Ehering daläßt.

Aus zahlreichen Einzelzügen geht mithin hervor, daß die zu erlösende ebenso wie die erlöste «Prinzessin» ein Geisterwesen, eine Fee oder Göttin ist und daß die Formulierung Aarnes im Typenverzeichnis, das Märchen handle von einer übernatürlichen Gattin (wz: eine "Anima"), zutrifft - jedenfalls soweit man das nicht vorurteilsfreie Wort übernaturlich gelten lassen will. Diese «Königstochter» entspricht anderen genau so benannten Frauengestalten in anderen Typen, die ebenfalls der Wesen- oder Seelenwelt angehören wie die des Typs 400. Unmittelbare Bestätigungen dafür bieten schon einzelne Fassungen unseres Märchens, eine mährische, nach der das Mädchen eine Feentochter ist, eine rätoromanische, die es als Uldauna, als Bergjungfrau bezeichnet.

In dem dritten Untertypus von AT 400, dem Märchen vom Schwanenmädchen, als 400C zu kennzeichnen, liegt diese Daseinsart der jungen Frau ohnehin auf der Hand, da sie nicht nur als ein wandlungsfähiges Vogelwesen erscheint, sondern demgemäß auch häufig auf dem Glasberge, in der oberen Welt, im Himmel, im Geisterreiche daheim ist. In den außereuropäischen Märchen wird dies meistens völlig klargestellt.

[125] In dieser Wesensart der Braut haben wlr eben auch den Grund dafür zu sehen, daß die Verbindung zwischen dem Mann und seinem Weibe, sobald er einmal auf den Erdboden zurückgekehrt ist, nur noch im Schlafe oder in der Vision möglich ist. Diese ihre Natur erklärt ferner, warum es eine so schwere Verletzung an der Verbindung der beiden ist, wenn der Mann von der Schönheit seiner Frau spricht. Wird sie nämlich der Wahrheit gemäß gepriesen, dann ist damit auch enthüllt, daß sie kein menschliches Wesen ist: sie, die Schönste auf Erden, vor der aller Wettstreit verstummt, zarter unterm Fuß als die irdische Prinzessin im Gesicht, ein Wesen wie die Sonne am Himmel. Wie anders als im unaussprechlichen Geheimnis könnte der Menschenmann eine solche Verbindung bewahren! Der profanierende Vergleich zerreißt die Wesensbindung, und der König von drüben verliert den Wesensgewinn und den darin gründenden Stand. Alles Zauberhafte entweicht von ihm, auch das Königsgewand kommt ihm abhanden, und er ist ein in die Erdenweiten verlorener Mannmensch, mit Eisen beschuht, den beschwerlichen Stab in der Hand, ohne Wegweisung in einem sich endlos dehnenden Umkreis.

In dem Märchen vom verschlafenen Stelldichein mißlingt die Begegnung mit der Braut aus der Wesenwelt, der Schlaf der Gesichte erfüllt sich nicht. Daß dies der Sinn in dem eigenartigen Schlafmotiv sein dürfte, wird durch den nahverwandten zweiten Untertyp des Märchens 400 klargestellt. Auch dort tritt zwar im Schlaf in den typischen Fassungen die wesens- und geschehensgemäße Trennung ein, doch gibt es wenigstens eine vorübergehende Begegnung in einer Vision der Geistin, und die Kunde von ihr stellt sich symbolisch in dem Zettel dar, der im Untertyp A vertreten wird durch die vom Diener übermittelte Botschaft oder auch dort durch ein Schriftstück. In den beiden Untertypen, entschiedener jedoch im ersten, stellt sich der Schlaf dar als Potenz der Begegnung, als Möglichkeit, die sich erfüllen könnte, die aber auf dem bis dahin erreichten seelischen Stande schicksalhafterweise noch leerbleibt.


Das Ringen gegen den niederen Schlaf der Betäubung, um die Erfüllung bringende Art der Wachheit - spielt in den Mythen und den Riten der ganzen Welt eine große Rolle, es ist mit dem Wesen des Menschen verknüpft, und es reicht daher bis in die Erlebnisse unserer Epoche hinein. Erich Neumann gibt die Imaginationen eines Patienten wieder, dem sich in zwölf Bildern nacheinander zwölf Gottheiten offenbaren sollen, den indes nach den ersten vier Gesichten eine starke Müdigkeit ergreift; zur Vollendung der Visionen [126] aufgerufen, da die Stunde nicht wiederkehre, schaut er noch zwei weitere Bilder und wird danach von verdoppelter Müdigkeit angefallen; doch gelingt es ihm, sich wiederholt durch sinnbildliche Stärkungsmittel zu erfrischen, so daß er die gesamte ihm bestimmte Reihe erschaut und erst nach dem zwölften Bilde in Schlaf versinkt - innerhalb des imaginierten Erlebens. Es ist klar, daß der in diesem Zustand drohende Schlaf (wz: und damit der Vberlust der BK) nicht nur Betäubung ist, sondern auch ein Symptom jenes Zustandes, in dem allein die erlebenswichtigen Bilder aufsteigen können. Zu vielen Initiationen gehört daher das langanhaltende Wachen, durch das die Neophyten in jenen Zwischenzustand geraten, der den Einbruch der Visionen erlaubt. Stets ist aber dieses Stadium bedroht von dem Anheimfall an die lähmende totengleiche Dumpfheit, den bleiernen Schlaf.

In der Wirklichkeit des südamerikanischen Urwaldes nimmt sich dies Ringen um das erleuchtende Gesicht folgendermaßen aus:

Die Indianer beabsichtigen, gemäß dem, was die Berichterstatterin, Florinda Donner, erfährt, Hilfsgeister, Hekuras, die töten sollen, auszusenden gegen ein feindliches Dorf. Es ist Nacht. Die Männer, die an dem Ritual teilhaben, blasen sich gegenseitig Epena in die Nase, Schnupftabak aus einer Rauschpflanze, und beginnen unter der Leitung ihres Shapori, des Ritualführers Puriware, die Schamanenlieder zu singen. Der anschwellende und wieder absinkende Gesang geht stundenlang fort, und die Gruppe der Teilnehmer schmilzt bis auf zehn zusammen. Tief in der Nacht hört Florinda Donner den Shapori diese Worte singen:

Folgt mir, folgt meiner Schau!
Folgt mir über die Baumwipfel hinaus!
Schaut auf die Vögel und die Schmetterlinge, niemals
seht solche Farben ihr auf dem Boden!
Ich steige empor zum Himmel, der Sonne entgegen!

wz: Es gilt also, den Zweitkörper (subtle body, Hauchkörper ...) aus dem physischen Leib zu lösen und hochzufliegen. Dabei ändert sich typischerweise auch die Farbwahrnehmung.

Nun unterbricht einer der Männer den Gesang des Shapori: «Einen Schlag hat mir die Sonne versetzt! Mir brennen die Augen!» so schreit er und erhebt sich, schaut sich hilflos um in der Dunkelheit und bricht zusammen. Niemand kümmert sich um ihn.

«Puriwares Stimme erklang eindringlicher, als versuche er, die Männer gemeinschaftlich zu seiner Schau zu erheben. Wieder und wieder ließ er seinen Gesang ertönen für diejenigen, die noch im Kreis um ihn hockten. Er ermahnte die Männer, sich nicht im schimmernden Tau ihrer Visionen zu verlieren, er warnte sie vor den speergleichen Bambusblättern und den giftigen Schlangen, die auf dem Pfade zur Sonne hinter den Bäumen und den Baumwurzeln lauerten. Vor [127] allem ermahnte er sie, nicht in den menschlichen Schlaf zu verfallen, sondern aus der Dunkelheit der Nacht in die weiße Dunkelheit der Sonne voranzuschreiten. Er versprach ihnen, daß ihre Leiber vollgesogen sein würden mit der Glut der Hekuras und daß aus ihren Augen das kostbare Licht der Sonne selbst leuchten werde.»

In diesen Worten des südamerikanischen Ritualführers ist einmal ohne Umschweif die Gefahr ausgedrückt, daß der Visionär, statt ins Licht der ekstatischen Schau aufzusteigen - zurücksinkt ins nächtliche Dunkel des «menschlichen Schlafs».

Darum gilt von jeher der Schlaf der Betäubung als der Bruder des Todes, während der Hellschlaf den Zugang zu den Göttern eröffnet. Die Tragik des Menschseins besteht darin, daß es am Ende immer dem Todesschlaf anheimfällt. Wenn der Mythos das visionäre Erleben als leibhaftes Geschehen darstellt, tritt dieser Übergang in all seiner Härte hervor.

Im ältesten Märchen, das von dem Versuch des Gilgamesch erzählt, dem Tod zu entrinnen, muß um deswillen sich diese Urgestalt des Menschen nur sechs Tage und sieben Nächte wachhalten; doch als er sich nun zu Boden setzt, haucht wie ein Nebel der Schlaf ihn an, und er verschläft die ihm gesetzte Frist ganz und gar, ja er glaubt, als er geweckt wird, er sei nur kurz eingenickt; verloren bleibt ihm darum das göttergleiche Leben.

wz: Es geht nicht nur darum - wie Remo F. Roth in Was uns die Träume über ein mögliches Leben nach dem Tod sagen treffend bemerkt , daß «unsere Aufgabe darin besteht, schon in diesem Leben durch einen aktiven introvertierten Prozess am Aufbau des Körpers für das Leben nach dem Tod zu arbeiten», also darum, einen Diamantkörper (subtle body, Hauchkörper, usw.) zu entwickeln, sondern auch darum, die Kontinuität des Bewußstseins, die BK, beizubehalten und nicht dem "Schlaf" zu verfallen.
«Wir tun also gut daran, schon in relativ jungen Jahren Träume ernst zu nehmen, welche vom Aufbau eines Hauchkörpers sprechen. Paracelsus hat die Ansicht vertreten, dass wir durch diese Arbeit die vita longa (das lange Leben) erreichen. Diese besteht einerseits in einer Gesunderhaltung des Körpers und damit ein langes Leben im Diesseits, aber auch in einem ewigen Leben im Jenseits. Entscheidend an dieser Aussage ist jedoch, dass die Arbeit im Diesseits zu geschehen hat» (ibid.).

In einer Mythe verschiedener nordamerikanischer Stämme versucht ein Mann, sein verstorbenes Weib aus derTotenwelt heimzuholen, vergleichbar dem griechischen Orpheus. Doch wie dieser die notwendige Bedingung verfehlt, erfüllt auch in den indianischen Erzählungen der Wanderer in der Unterwelt nicht die Forderung ihres Herrn, die in der Yokut-Fassung darin besteht, nur eine Nacht hindurch wach zu bleiben. Zwar verbringt er die ganze Nacht redend mit seinem Weib auf dem Lager, aber vor der Morgenröte schlummert er ein und erwacht mit einem modrigen Holzscheit im Arm. Er gelangt zurück in die Welt der Lebenden, doch nur, um auch dort eine ihm gesetzte Bedingung nicht zu erfüllen und nach wenigen Tagen den Tod zu erleiden.

Zu dem Bewußtseinskampf um jene Lücke zwischen Wachen und Schlafen, die den Zugang zur Innerlichkeit und zur jenseitigen Innerlichkeit freigibt, hält das Märchen noch weitere bedeutsame Beispiele bereit. In zahlreichen Fällen stellt es dieses Ringen an mehreren Personen dar, von denen nur eine den Durchblick in die Welt der Wesen gewinnt, während die anderen, meist die älteren Brüder, entweder von vornherein Verzicht leisten - oder den Irrweg leibhafter Bemühungen einschlagen - oder dem gesichtelosen Nachtschlaf verfallen.

Diese letzte Art ist am deutlichsten ausgeprägt in dem Märchenmotiv von der beeinträchtigten Frucht, wo dem König oder dem Bauern allnächtlich der [128] Obstbaum geplündert, das Feld zertreten oder die Wiese abgeweidet wird - als Einleitung zu AT 400C, 530, 550/551. Die älteren Söhne werden reichlich mit Speis und Trank versehen und schnaufen die Nacht hindurch im Verdauungsschlaf. Der Jüngste trifft alle Vorkehrungen, um wach zu bleiben in der Nacht, und er wird des Jenseitswesens ansichtig, der Schwanenmaiden, des Zauberrosses, des Wundervogels. Es kann nicht der mindeste Zweifel daran bestehen, daß es sich bei dem Erschauten um Gesichte handelt und bei dem Verhalten des Jüngsten um die seherische Praxis. Die nächsten Verwandten zu dem Märchenmotiv liegen vor in dem indianischen Rufen nach dem Gesicht, auch Traumfasten genannt, und vor allem in der germanischen utiseta, dem Draußensitzen um eines Gesichtes willen.

Der Indianer wird durch bestimmte Riten, Fasten, gemeinsames Rauchen, Schwitzbad, vorbereitet und setzt sich dann auf einem besonders hergerichteten Platze, auch etwa in einer Kultgrube oder -hütte, einsam der Nacht und ihren Gesichten aus. Alles was dann geschieht, was sich zeigt, ist bedeutungsvoll. Eine wichtige Schauung konnte bestimmend sein für das ganze Leben; sie konnte in der Begegnung bestehen mit Naturwesen, die zur Anfertigung einer bestimmten Medizin anleiteten, sie konnte mit Liedern bekanntmachen, die des Mannes Eigentum blieben und die ihm mehr Kriegsheil und Jagdglück verliehen als ein von anderen übernommenes Lied. Auch war es möglich, mit Totengeistern oder göttlichen Wesen in Verbindung zu treten und für immer ihren Schutz und ihre Lebenshilfe zu gewinnen. Es konnte auch geschehen, daß man auf diese Weise Bilder von der eigenen Zukunft schaute, Feinde, die man erlegen, Pferde, die man rauben, Büffel, die man erjagen, die Braut, die man gewinnen würde.

Von den Erlebnissen und den Ergebnissen des indianischen Schauwachens ist uns mancherlei aus den Märchen vertraut. Da wäre an den Jungen zu denken, der auf der einsamen Waldfahrt die Mächte von Tieren gewinnt und sie in Gestalt einer Vogelfeder, eines Tierhaares, eines Ameisenbeines, einer Fischschuppe mit sich führt, seine Medizin! - und der sich dadurch entweder selbst in ein solches Tier verwandeln oder der es herbeirufen kann zu augenblicklicher Hilfe - u.a. AT 302, 554. Oder es wäre zu denken an die «Verliebtheit» in ein visionär geschautes Bild, das durch eine initiatische Fahrt als Braut verkörpert sein will - AT 516.

Mit dem Schauwachen verwandt ist die Schamanenweihe, die ebenfalls einsam durchlitten wird, freilich in weit längeren Zeiträumen. Auch dort wird derJüngling nicht von Menschen geleitet, sondern von den Gesichten selbst. Er gewinnt Geister als Helfer, oft in tierischer Gestalt, oft als Reittier, auch sehr oft den Vogel als Träger für den Geisterflug. Auch hier bestehen die unmittelbarsten Parallelen zu Märchenmotiven, zu den magischen Reittieren [129] des Helden, den redenden Füchsen, Wölfen, Bären, Löwen, Pferden, die ihn in das Seelenreich der geschauten Gesichte hinübertragen. Dort kommt oft auch der Vogel als Reittier vor, und es fehlt auch nicht das Motiv des Opfertieres, mit dessen Fleisch der Vogel gefüttert sein will - bis hin zum Schnitt in das eigene Fleisch als einem letzten Opfer, dem Selbstopfer, um eines letzten höchsten Zieles willen - AT 301.

Das germanische Schauwachen wurde altnordisch mit dem Zeitwort sitja uti, dem Hauptwort utiseta bezeichnet. Man «saß draußen» einsam in der Nacht, um ein Gesicht oder einen Zauber zu erwirken.

Ein besonders interessanter Bericht über eine solche utiseta findet sich bei Saxo Grammaticus, innerhalb einer sehr abweichenden Fassung der Baldersage, aus der er, im Widerwillen gegen die alten Götter, eine rivalisierende Liebschaft Hothers und Balders gemacht hat, die beide um die schöne Nanna werben. Aus Furcht vor dem Göttersohne Balder verweigert ihr Vater sie zwar dem Hother, gibt ihm aber gleichzeitig den Rat, das Schwert eines Waldgeistes namens Miming zu gewinnen, da Balder allein mit dieser Waffe getötet werden könne. Hother bewältigt die mühevolle Reise zur Wohnstatt des Geistes und baut dort, der erhaltenen Vorschrift gemäß, sein Zelt so auf, daß es keinen Schatten auf die Höhle des Geistes wirft, wohl aber von dort die Schatten auf sein Zelt fallen.

Nach Saxo fastet nun zwar Hother nicht, aber er meidet den Schlaf, und zwar so, daß er am Tage jagt, in der Nacht aber über seine Lage nachdenkt - wir dürfen getrost sagen: er benutzt sein Zelt als Meditationshütte. Dabei erblickt er nun eines Nachts, ermüdet und abgespannt - also in der für Visionen günstigen Verfassung - den Schatten des Geistes auf seinem Zelt. Von hier biegt nun allerdings der Romanschreiber Saxo, wie es scheinen könnte, aus dem visionären Zustand aus, indem Hother seinen Ger nach dem Geiste schleudert und ihm durch Drohungen das Schwert und dazu einen kostbaren Ring abnötigt, ein magisch und rituell zusammengehöriges Paar von Geräten.

Es ist allerdings nicht ganz sicher, ob der Waffengebrauch in der Vision nicht doch ursprünglich ist. Denn auch der draußensitzende Bursche des Goldvogelmärchens nimmt meist ein Gewehr mit und schießt dem Wundervogel eine Feder ab, die Feder, die das Gelingen seiner Nachtwache bezeugt und die ihn dazu antreibt, eine Suchwanderung im Raume zu unternehmen. In diesem Punkte scheidet sich das Märchenmotiv allerdings gründlich von der Verfahrensweise des saxoschen Hother, der sogleich die Erfüllung erzwingt, während der Märchenhans um des Zieles willen nun erst die Mühsal einer Weltenreise bis in den Ursprung der Geheimnisse unternimmt - mit einem Tier als ratendem und tragendem Helfer.

[130] Es ist merkwürdig, daß in derselben Weise, in der Indianer und Germanen als einzelne für sich selbst nach Gesichten forschten, in Rom von Staats wegen der Wille der Götter erkundet wurde. Der Augur erwartete die Zeichen aus dem Vogelflug oder aus Juppiters Blitzen an einem Orte mit weiter Aussicht. Dort wurde aus Brettern eine Art Hütte errichtet, das Tabernaculum, ein Wort, das geradezu als »Schauhütte« übertragen wird. Nach Süden oder Osten gewandt, erwartete hier der Seher, mit bedecktem Haupt, gewöhnlich um Mitternacht, die im Gesichtskreise auftauchenden Zeichen. Die Beobachtungsfelder am Himmel, die templa, waren mit dem Amtsstabe, dem Lituus, einer Art Schamanenstab, schon feierlich eingegrenzt, und je nach der Gegend, in der die Zeichen erschienen, galten sie als günstig oder ungünstig. Ob nicht die Hütte und die Hauptesverhüllung vielmehr darauf hinweisen, daß die Schau ursprünglich eine innere war und die räumliche Einteilung der Himmelsfelder und die planmäßige Zuteilung der erscheinenden Zeichen erst eine späteste rationale Abwandlung von Staats wegen?

Hält man sich nun die erwähnten Bräuche vor Augen, die Kulthütte und die Kultgrube der Indianer, die Meditationshütte in der Sagenfassung bei Saxo und das Tabernaculum der Römer, dann muß es als ein höchst merkwürdiger Einklang erscheinen, wenn in einem schleswig-holsteinischen Märchen sich der erfolgreiche Bauernbursche abends am Rande der fraglichen Weizenkoppel im Graberz eine kleine Hütte aus Rainfarn und Beifuß erbaut und darin, um zu wachen, niederlegt!

Gegen Mitternacht erhebt sich ein Unwetter wie ein Weltuntergang mit ungeheuren Regengüssen; aber im Augenblick hellt sich alles wieder auf, die Luft wird still und klar, zwölf Schwäne kommen in einer Reihe geflogen, lassen sich nah bei der Hütte nieder und erscheinen nun als Prinzessinnen, die alle mit einem Mäntelchen bekleidet sind.

Kein Zweifel: diese Ausbildung unseres Märchenmotivs stammt entweder noch her aus der Zeit, wo solche Bräuche wirklich geübt wurden, oder sie ist von einem begabten Erzähler auf Grund des ererbten Märchenmotivs in einer sinnvollen, den alten Gebräuchen und den echten Gesichten entsprechenden Weise erneuert worden. Als erlebt und nicht als faktisch wahrgenommen hat sicherlich auch das kurz andauernde Unwetter zu gelten. Es ist allzu deutlich als eine sinnvolle Einleitung zu der Vision der Vogelwesen in nächtiger Stille geschildert, sinnvoll auch dadurch, daß es die unberufenen Beobachter, die älteren Brüder, in den vorausgegangenen Nächten vertrieben hat.

Eine weiße Frau, die sich von den Indianern in den Gebrauch der Heiligen Pfeife hat einweihen lassen und die dazu ebenfalls einsam in einer kleinen Hütte der Nacht ausgesetzt wird, erlebt dort einen plötzlich losbrechenden Wind, einen schweren Sturm; die Wände der Hütte werden eingedellt und wieder aufgebläht, die Weidenäste des [131] Gerüstes spannen sich und kreischen, mit ungeheurem Lärm umtobt sie ein Orkan, auf den schwere Regengüsse folgen. Als die Hütte am nächsten Morgen geoffnet wird und sie hinaustritt, um die Sonne zu grüßen, erblickt sie keine Spur von Sturmschäden, auch der Boden ist trocken, und sie erfährt, daß die Nacht besonders still gewesen ist - ohne einen Windhauch im Tal oder auf dem Berge, und es hat auch nicht geregnet.

Die Verwandtschaft einer solchen Schilderung mit dem, was das schleswig-holsteinische Märchen in seiner Ereignisfolge bietet, ist unverkennbar und unbestreitbar. Auch liegt bei uns die Zeit entsprechender Bräuche doch noch nicht ganz so weit zurück, wie wir im allgemeinen annehmen, denn auch die schleswig-holsteinische Sage, die Sage also, die ja von leibhaften Maßnahmen und Erfahrungen redet, erwähnt ein hüttenartiges Gebilde, das zu seherischen Zwecken errichtet wird. Setzt sich nämlich bei Nacht ein Mann unter zwei zusammengelehnte Erbeggen, so besagt eine Nachricht aus einem Dorfe nahe Schleswig, so wird er des Geisterzuges der Hexen ansichtig (wz: Wilde Jagd, Wildes Heer). In dieser Form überliefert mithin die heimische Sage noch spät die ausführbare Vorschrift für eine nächtliche utiseta.

Auch was im Märchen von den beiden Wanderern erzählt wird, muß uns gelten als ein echtes Draußensitzen des Nothaften, der einer mehr als menschlichen Hilfe bedarf. Der Ungerechte hat dem Rechtlichen die Augen ausgestochen, und der Blinde verbringt nun die Nacht unter dem Galgen oder auf dem Baume, in jedem Falle an einer rituell besonderen Stätte. Regelmäßig treffen dort wundersame Wesen zusammen, Geister oder Teufel, sprechende Vögel oder vierfüßige Tiere. Ihre Rede ergeht über ein Heilmittel für die Augen - und über die geheimnisvollen Nöte des Landes (wz: waste land) und die Mittel, sie zu beheben. Mit dieser erlauschten Wissenschaft entrinnt der nächtliche Lauscher nicht nur all der eigenen Bedrängnis, sondern vermag auch die dreifältige Landesnot zu beheben, der kranken Prinzessin zu helfen, dem fruchtlosen Baum und der versiegten Quelle.

Im Märchen vom treuen Johannes hat der Helfer, während der Prinz schläft, ein Gesicht; er hört Stimmen, deren Weisungen für den weiteren Verlauf von lebenentscheidender Bedeutung sind. Im Fluß der Erzählung scheint es oft, als würden ihm diese Offenbarungen unversehens zuteil; doch gibt es auch Fassungen, in denen der Diener bestimmte Veranstaltungen trifft, um geheime Kunde zu erfahren - oder wenn er einmal, scheinbar zufällig, auf diese Möglichkeit gestoßen ist, so nimmt er sie von da an absichtlich wahr.

In einer bretonischen Fassung schläft der Königssohn bei der Ausfahrt in seiner Kutsche, der Diener aber bereitet sich «am Fuße einer alten Eiche ein Lager aus [132] Moos und Farnkräutern». Um Mitternacht vernimmt er Geräusche wie von Vögeln, sieht Lehnstühle im Geäst des Baumes, beobachtet, wie dort drei Gestalten Platz nehmen, und hört von diesen, wie man zu der Prinzessin gelangen und sie entführen kann. Auf der Rückfahrt bereitet er sich mit Absicht an derselben Stelle ein solches Lager, und nun wird ihm die Kunde von den Gefahren der Heimkehr zuteil. Als er später zu Stein geworden und sein Herr in tiefe Reue verfallen ist, weil er ihn gezwungen hat, das Geheimnis zu enthüllen, ergreift der Prinz ebenfalls dies Mittel, um Auskunft über die Rettung seines Dieners zu erlangen.

Es scheint kaum ein Zweifel daran möglich, daß auf diesen Teil des Märchens noch spät allerlei Bräuche eingewirkt und zu verschiedenartiger Ausbildung des Erzählmotives beigetragen haben. Besonders sei auch darauf hingewiesen, daß bei Ausfahrt und Heimkehr die Rollen gedoppelt sind in den Schlafenden und den Wachenden.

Das Motiv ist in diesem Typ des öfteren auch so ausgebildet, daß das Traumwachen (wz: luzider Traum, Klartraum, Hellschlaf) in einem kleinen Hause stattfindet; manchmal wird es erkennbar, daß die Auskunftgebenden dort Tote sind. Dies sei hier nur erwähnt. Doch aus einem holsteinischen Märchen des Typs 400A, C sei die merkwürdige Gestaltung des Motives vom Haus der Schicksalsweisung hier ausführlicher wiedergegeben.

Dort hat der Märchenhans die Verbindung zu den Schwanmädchen völlig verloren und will sich umbringen. Er stößt aber auf einen alten Schäfer, der seltsamerweise von seinen Nöten weiß, ihn jedoch um Rat und Hilfe an seinen uralten Onkel verweist, der in einem winzigen Hause hoch am Berge wohnt. Dort muß er sich für die Nacht aufnehmen lassen, indem er vortäuscht, daß er sich verirrt hat; auch darf er sein Anliegen nicht nennen, sonst würde er nicht eingelassen. Mit dem Alten zusammen muß er in dessen einzigem Bette schlafen, ihm zweimal, wenn er eingeschlafen ist, Rippenstöße mit dem Ellbogen geben und ihn schließlich aus dem Bette stoßen - «dann wird er dir wohl Bescheid sagen.»

Eine seltsame Prozedur - und doch dem Sinne nach völlig klar. Dem Wachenden muß, um Störungen durch das Bewußtsein zu vermeiden, die Absicht verhehlt werden; der Schlafende aber muß in den schlafwachen Zustand versetzt werden, der ihm die Gesichte vermittelt.

Noch «schlummerhaltiger» ist eine ähnliche Szene in einem sardinischen Märchen unbestimmter Typik.

Es handelt sich um Königsaufgaben, die bestanden werden müssen und für deren Lösung der Sohn des Armen die Königstochter erhält. Er empfängt die Aufschlüsse, die er dazu braucht, von den «beiden Alten, die alles wußten». Auch sie leben oben im Gebirge, doch nicht in einem Hause, sondern im Innern einer langen Höhle. Den Weg dorthin findet der Ratsuchende nicht allein, sondern wird durch den Wald aufwärts [133] geführt von drei geheimnisvollen alten Männern, die er unter einer Brücke kennengelernt hat. Ins Innerste der dunklen Höhle geleitet ihn Bienengesumm. Das Paar findet er dort schon schlafend vor; er legt sich zwischen die beiden, die Augen fallen ihm zu, kaum daß er sich niedergelegt hat, und dann hört er die zwei Alten miteinander sprechen. Die Ratschläge beziehen sich, bei drei verschiedenen Besuchen, auf den Bau eines Schlosses, das einen Berggipfel krönen soll, auf den Quell, der dort gefunden werden muß, und auf die Truhe mit dem Königsschatz, die dort ausgegraben und von einer Truhe mit giftigen Fliegen unterschieden werden muß, von einem Behälter also, der ein zum Schatz entgegengesetztes Unheil umschließt.

Statt von einem Königspalast wäre wohl in ursprünglicherer Weise eher von einem Tempel zu reden, der auf geweihter Bergeshöhe zu errichten ist. Wie es sich damit immer verhalten möge, die hohe Eigenart der Orakelhöhle und ihrer dort ratenden Wesen ist nicht zu verkennen. Verwandtes hätte man etwa in der Höhle der cumäischen Sibylle zu sehen oder in der ofterwähnten Höhle des Trophonios in Böotien, in die ursprünglich auch Bienen die Ratsuchenden eingeführt haben.

Kann man bei diesen beiden vereinzelten Szenen, in dem holsteinischen, in dem sardinischen Märchen, auf Einflüsse aus noch spät nachlebendem Brauchtum schließen, so haben wir doch auch völlig märchentypische Beispiele für das Orakel, das der besonders Begabte dem Ratsuchenden im Schlafe gibt. Eine ganz ähnliche Szene spielt sich, typgebunden und regelmäßig, in dem Märchen von den drei Goldhaaren des Teufels ab - AT 461. In den Ablauf dieses Märchens hat sich eine irrige Bewertung eingeschlichen, seit der eigentliche rituelle oder schamanische Sinn der Handlung aus dem Bewußtsein der Erzähler entschwand, der Irrtum nämlich, daß der König, der den Schwiegersohn aussendet, diesem übelwill. Richtig ist, daß der schlichte Häuslersohn nicht ohne weiteres, nicht ohne initiatische Erprobung mit der Erbtochter vermählt und König hätte werden können.

Alle anderen Märchenhelden, ob «Aufsteiger» oder geborene Prinzen, müssen sich in einer todbedrohten Zone oder Phase Königsmacht oder Königsrecht erringen. Mithin muß der Thronanwärter, den der König unversehens mit der Erbtochter vermählt findet, diese Todesstrecke nachträglich durchlaufen. Von vornherein legt das Geburtsorakel des Knaben dem König die unausweichliche Verpflichtung auf, ihn dem Tode auszusetzen und sich nicht damit zufrieden zu geben, daß «sein Glück» zweimal von dem Jungen die Todesgefahr abwendet. Es ist ganz folgerichtig, daß er bei dem dritten Unternehmen ihn der jenseitigen Gottheit selbst, dem toddrohenden Gott jenseits des Stromes, dem Teufel der späten Terminologie, direkt zusendet.

Es ist nicht von Wichtigkeit, daß der König drei Goldhaare fordert; [134] das ist ebenso eine Lappalie wie die drei Steinwürfe an den Hintern des Teufels, die dem Ausgesandten in einer Wälschtiroler Variante auferlegt werden. Wichtig ist vielmehr, daß dieser nichtige Auftrag sich auf der Wanderung mit lebensnotwendigen Aufgaben füllt, Aufgaben, die ohne jenen sinnlosen Auftrag auch nicht ausgeführt werden könnten. Denn indem er sich mit den Orakelfragen dem Unterweltsweibe anvertraut und sich ihres Beistandes versichert, erlangt er nebenher auch die Möglichkeit, jene Lappalien zu erledigen.

Die Situation, in der er die Antworten erlangt, ist nun aber ganz typisch für das Schlafmotiv im Märchen. In der Nacht, unter dem Bett des schlafenden Unholds, der den jungen Mann töten würde, wenn er von seinem Dasein wüßte, erlauscht er die Weissagungen, die das Weib auslöst, indem es die gefährliche schicksalsweise Unterweltsgottheit im Schlafe aufstört. Dabei ist noch zu vermerken, daß sich die Frau auf beunruhigende Wahrträume beruft, beunruhigend, weil sie nur von einer Notlage, nicht von ihrer Stillung wissen. Die Nöte sind die gleichen, Baum, Brunnen, Erbtochter, wie im Märchen von den beiden Wanderern; vielleicht sind sie im Typus 461 ursprünglicher.

Bei dem Märchenmotiv der beeinträchtigten Feld- oder Gartenfrucht führt das Draußensitzen meist zu einem Gesicht, an das sich eine Suchwanderung anschließt, und dann wird der Helfer zum Erreichen des Zieles erst zu Anfang der Wanderung gewonnen. Es ist aber auch möglich, daß bei der Feldwache selbst schon dem Helden das helfende Pferd oder die Pferde zuteil werden. Regelmäßig wird das zauberhafte Reittier bei einer anderen Form des Draußensitzens gewonnen, bei der Grabwache. Es handelt sich dabei um ein Märchenmotiv von unmittelbar einsichtigem altertümlichem Sinn, nämlich um das magische Erbe des Vaters im Gegensatz zum materiellen Erbgut. Dieses Motiv ist, ohne Grabwache, in burlesker Form, wohlbekannt aus dem Gestiefelten Kater, wo den älteren Brüdern der Besitz zufällt, dem jüngsten aber die Potenz zu magischem Wirken und Erwerben.

Auch bei der Grabwache zeigt sich die Teilung in die Schlafenden und den Wachenden; hier freilich ist der Beweggrund zum Schlafen nicht Völlerei oder Ahnungslosigkeit, sondern meist die Angst vor der Nacht.

Ein Vater hat drei Söhne, jeder von ihnen sollte eine Nacht am Grabe des Vaters verwachen, doch die älteren fürchten sich. Sie schicken stattdessen jedesmal den jüngsten, und daher erscheint diesem allein in drei aufeinanderfolgenden Nächten der tote Vater und vermacht ihm jeweils eines seiner magischen Reittiere, Pferde zumeist.

Im Märchen tritt es für uns nicht mehr mit eindeutiger Klarheit hervor, daß sich damit der Jüngste als der Haupterbe erweist und bewährt. Im Altertum war sicherlich das Haupterbteil, bei einem Herrscher zumal, dasjenige [135] Gut, das die Verbindung zur jenseitigen Welt (wz: Anderwelt, das "Unbewußte") sicherstellte. Eben dies bedeutete es einstmals, wenn der Thronerbe die Reichskleinodien übernahm, Ring, Krone, Stab, Apfel, Speer. Diese waren weder Kostbarkeiten, wie auch der Reichsschatz nicht einfach Reichtum war, noch auch bloße Rangabzeichen, sondern sie stellten den Zusammenhang her zwischen dem neuen Träger und den früheren Trägern, den Geistern der Vorgänger und deren göttlichen Helfern.

Eine Seite des alten Herrschertums zeigt eben deutlich auch schamanisches Wesen. In einem ostafrikanischen Reich, das noch bis ins vorige Jahrhundert von einem heiligen König regiert wurde, waren auch die Leiter der Sippen Schamanen, und der Nachfolger war stets ein Sohn, der nicht nur seines Vaters Geist erbte, sondern auch aus allen Brüdern von dem Geiste selber ausgewählt wurde. Mit solchen Verhältnissen zeigt sich das Motiv der Grabwache nahverwandt, wenn auch im Märchen die Terminologie spätzeitlich und die Wertungen abgewandelt sein mögen. Doch wird in einem russischen Märchen der Vater ausdrücklich als Zauberer bezeichnet und beschrieben; sogar von einem Teufelspakt ist die Rede, und zwar ohne daß nach dem Tode die Seele verlorenzugehen droht: es handelt sich eindeutig um das schamanische Motiv mit ein wenig spätzeitlicher Tünche. Es wäre dem nur noch hinzuzufügen, daß der Jüngste mit dem Bestehen der Grabwache nicht nur seine Bereitschaft zum Totendienst bezeugt und das schamanische Vermögen erringt, sondern daß er überhaupt in der Nacht heimisch wird und sich ihren besonderen Erscheinungen und Mächten furchtlos gewachsen und anverwandt zeigt.

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Teil 3


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