Kan Mirgän, Komdei Mirgän
und Kanna Kalas

eine tatarische Heldensage
Teil 2/2

M.A. Castrén (Hg. A. Schiefner), Ethnologische Vorlesungen über die altaischen Völker nebst samojedischen Märchen und tatarischen Heldensagen. (St. Petersburg: 1857:239-257).
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1. Teil

Nun fragt das Mädchen: »Was waren aber das für Geschöpfe, die mich im finstern Gemach packten, meine Kleider zerrissen und mich plagten, aber keinen Körper hatten?« Die Irle-Chane erwidern: »Dies sind unsere unsichtbaren dienstbaren Geister, welche jedem bösen Menschen alles Übel antun und ihn sogar töten können, sich jedoch alle Zeit von guten Menschen fern halten und nicht im Stande sind, ihnen irgend einen Schaden zuzufügen.« Das Mädchen fuhr fort nach den Vergehen der Menschen zu fragen, die sie in den Gemächern eingeschlossen gesehen hatte und die Irle Chane antworten: »Die Weiber, welche im ersten Gemach saßen und spannen, haben auf der Erde nach Sonnenuntergang gesponnen, zu welcher Zeit es nicht erlaubt ist, sich mit irgend welcher Arbeit zu beschäftigen. Die Weiber aber, welche nicht schlucken können und ohne Beschäftigung in dem zweiten Gemach sitzen, haben von anderen Menschen Strähnen zum Wickeln empfangen: die Knäule haben sie groß gemacht, sie aber inwendig leer gelassen und Garn in den Busen gesteckt Diese Strähnen sind sie jetzt zu verschlucken verurteilt; die Knäule aber sitzen ihnen auf ewige Zeit im Halse. Die jungen Mädchen, die du mit Steinen an Armen und Hals sahest, haben Butter gesalzen und Steine in die Butter gesteckt, um das Gewicht zu erhöhen. Deshalb drücken jetzt schwere Steine ihre eigenen Nacken und ihre Strafe wird in Ewigkeit fortdauern. In dem vierten Gemach sahst cdu Männer mit Blöcken im Nacken und Schlingen um den Hals: dies sind Selbstmörder, die sich erhängt haben. Die Männer mit Büchsen in den Händen in dem fünften Gemach sind auch Selbstmörder, welche sich aus dem Grunde erschossen haben, weil sie mit ihren Frauen uneinig gelebt haben. Die Männer im sechsten Gemach, welche Messer tragen, haben sich in der Trunkenheit mit den Messern beschädigt und durch Selbstmord getötet. Im siebenten Gemach sind die Männer rasend geworden, weil sie sich nicht vor tollen Hunden in Acht genommen, sondern dieselben gereizt haben und gebissen worden sind. Im achten Gemach sahst du Männer und Weiber unter großen Decken liegen, die dennoch für sie zu klein waren. Diese waren deshalb gestraft, weil sie während ihrer Lebenszeit uneinig miteinander gelebt und jede Ehehälfte nur ihren eigenen Vorteil wahrgenommen hat, wodurch beide Mangel gelitten haben. Dagegen sahst du im neunten Gemach, daß Männer und Frauen, welche in Eintracht leben, mit geringem Vermögen sich begnügen können. Diese leiden keine Strafe, sondern sind hier bloß zum Vorbild für andere und damit die Bösen durch ihren Anblick ihre Strafe nur noch um so mehr empfinden.«

Als das Mädchen alles dies erfahren hatte, trennte sie sich von den Irle-Chanen, fuhr auf zum Sonnenlande und kehrte mit dem Haupte ihres Bruders zu dem toten Körper zurück. Bei dem Verstorbenen sitzend weint Kubaiko, traurig und bekümmert, da sie kein Mittel kennt, um ihn wieder zum Leben zu bringen. (zurück) Während sie so weint, erbarmt sich Kudai ihrer Tränen und sendet ihr Lebenswasser. Das Mädchen nahm das Lebenswasser, spritzte davon auf die Überreste des Verstorbenen und als sie dieselben dreimal mit dem Wasser bespritzt hatte, fing der Leichnam des Bruders an sich zu rühren. Das Mädchen wurde hierüber sehr froh und erwartete nur, daß der Bruder aufstehen und seine Besinnung wieder erhalten möchte. Unterdessen hört man Huftritte eines Heldenrosses. Das Mädchen erschrak und glaubte, daß sich ein Held einfinden würde, um den Bruder nochmals zu töten. Sogleich verwandelte sie sich in eine Schwalbe und flog davon. Nachdem sie eine kleine Strecke geflogen war, machte sie halt, um zu sehen, was der angekommene Held vornehmen würde. Er hob Komdei Mirgän auf sein Roß, setzte ihn hinter sich auf den Sattel und Komdei Mirgän kam wiederum zum Leben. Der angekommene Held spricht nun zu Komdei Mirgän: »Ich bin ein vater- und mutterloses Kind, das von deinem Tode hörte und kam, um dich entweder zu begraben oder dir ein neues Leben zu geben. Niemand hat mir einen Namen gegeben, ich aber nenne mich Kanna Kalas mit rothaarigem Rosse. Behagt dir dieser Name nicht, so kannst du mir einen anderen geben.« Komdei Mirgän fand den Namen gut und sie ritten nun ihren Weg weiter vorwärts. Als aber Kubaiko merkte, daß die beiden Helden einig wären, flog sie zu ihnen. Sie erzählt nun, wie alles zugegangen wäre und rät den beiden Helden heimzukehren. Selbst will sie sich zu ihrem Vater begeben, um auch ihn mit dem Lebenswasser ins Leben zu rufen. Darauf fragt sie Kanna Kalas, ob er nicht irgendwo einen schwarzen, drei Klafter langen Fuchs gesehen habe. Kanna Kalas erwiedert: »Dieser Fuchs ist ein Mädchen, das Ütjion Arax heißt und ihr Vater ist Üzüt-Chan. Er lebt mit seiner Tochter unter der Erde und sie tun alles Übel, was sie nur können auf der Erde. Dieses Mädchen suche ich schon seit langer Zeit, denn in meiner Kindheit lag ich vierzig Jahre unter einem Stein und sie ging in Gestalt eines Fuchses um den Stein herum, um mich aufzufressen. Deshalb suche ich sie schon seit längerer Zeit und glaube wohl, daß ich sie noch einmal finden werde.« Komdei Mirgän sagt: »Da du ohne Eltern und Angehörige bist, so laß uns beide Brüder werden und das ganze Leben hindurch einer für den anderen stehen. Stirbst du vor mir, so werde ich dich begraben, sollte ich aber vor dir sterben, so wirst du meinen Körper bestatten.« Kanna Kalas ging auf diesen Vorschlag ein und sie kamen sogleich überein, Djilbegän und den schwarzen Fuchs zu bestrafen.

Darauf begaben sie sich unter die Erde, rasteten nicht unterwegs und kamen bald zu den Irle-Chanen. Irle-Chan kam ihnen selbst auf dem Hofe entgegen. Komdei Mirgän griff sogleich zu seinem Bogen, spannte den Bogen und wollte auf ihn schießen, Irle-Chan aber rief: »Unterlaß es auf mich zu schießen, Komdei Mirgän, ich bin Herr unter der Erde und habe hier dieselbe Macht, wie Kudai auf der Erde. Mich zu töten ist weder möglich noch erlaubt.« Komdei Mirgän fragt jetzt Irle-Chan, weshalb er seinen Kopf abhauen ließ und denselben bei sich behielt. Hierauf erwidert Irle-Chan, daß dies geschehen sei, weil Komdei Mirgän einen mächtigen Helden getötet habe. Kanna Kalas sagte nun, daß er selbst Irle-Chan töten würde und wollte ihn nur unter der Bedingung am Leben lassen, wenn er Kan Mirgän freiließe. Irle-Chan ging auf den Vorschlag ein und brachte Kan Mirgän sofort zu den übrigen Helden. Diese drei Helden wurden jetzt drei Brüder, Kan Mirgän der älteste, Komdei Mirgän der mittelste und Kanna Kalas der jüngste Bruder. Kan Mirgän, als der älteste, bat jetzt die jüngeren Brüder seinen Befehlen genau zu gehorchen und machte sich dann auf, immer tiefer unter die Erde hineinzureiten. (zurück)

Als sie ein Stück Weges geritten waren, begegneten sie einem alten Manne, der in eine grüne Kleidung gekleidet war, mit einem dunkelgrauen Rosse. Ihn begleiteten sieben Hunde, die alle dunkelgrau waren. Kan Mirgän fragte den Alten, wer er wäre und der Alte versprach über sich Auskunft zu geben, wenn Kan Mirgän und die übrigen Helden die Güte haben wollten, von ihren Rossen abzusteigen. Dies taten sie auch, ebenso wie der Alte. (zurück) Alle setzten sich nun auf die Erde nieder und der Alte begann: »Du, Komdei Mirgän, suchst Djilbegän; du, Kanna Kalas, willst über den schwarzen, drei Klafter langen Fuchs Auskunft haben; und Du, Kan Mirgän, wünscht zu deinem Recht über den Boten von den zwei Heldenbrüdern zu kommen! Zwei Erdschichten unterhalb gibt es ein Meer und an diesem Meer wohnt Talai-Chan, der einen Sohn, namens Tâze Mokä hat. Djilbegän und der Bote haben sich zu Talai-Chan begeben, um bei ihm Hilfe gegen Komdei Mirgän und Kan Mirgän zu finden. Talai-Chan ist ein Menschenfresser und als Djilbegän mit dem Boten zu ihm kam, tat er sie in einen Kessel, kochte und fraß sie auf. Der schwarze Fuchs aber liegt in seinem Bett und schläft jetzt aufs Beste in einem Hause, das an diesem Wege steht. Wollt ihr etwas mehr wissen, so sehen wir einander im Sonnenlande wieder.« (zurück) Hierauf stand der Alte auf, die drei Helden aber begaben sich gerade zu Talai-Chan. Kan Mirgän ging in sein Zelt und bat seine beiden Kampfbrüder draußen auf ihn zu warten. Taze Mokä kommt ihm entgegen und sagt: »Mein Vater hat mich neun Jahre lang zu kochen und zu fressen versucht. Er hat soeben den Djilbegän und den Boten, die ihr sucht, aufgefressen. Du, der du ein großer Held bist, komm und hilf mir, so werde ich auf der Stelle ihn kochen und auffressen.« Zugleich kam Talai-Chan und stürzte auf beide los, um sie aufzufressen: sie aber packten und banden ihn, taten ihn in einen Grapen und kochten ihn.

Kan Mirgän kehrt hierauf zu seinen Kampfbrüdern zurück und setzt mit ihnen die Reise zu Üzüt-Chan fort. Angekommen stiegen die Helden von ihren Rossen, gingen zu Üzüt-Chan und fragten nach seiner Tochter. Der Alte erzählte, daß er viel Ungemach von ihr hätte und wünschte von ganzem Herzen ihren Untergang. Zugleich sagte er, daß die Tochter soeben von ihm gegangen sei und zeigte den Helden die noch frischen Spuren. Die drei Helden stiegen auf ihre Rosse und machten sich auf, um den schwarzen Fuchs zu verfolgen. Sie jagten ihn und kamen auf eine Steppe, auf der ein großer Stall stand. Auf dieser Steppe bekamen sie den schwarzen Fuchs, der in den Stall lief, zu Gesicht. Die Helden folgten dem Fuchs auch in den Stall, hier war es aber so finster, daß sie nichts sahen, sondern sich alle drei verirrten. Als sie im Finstern gingen, riet Kanna Kalas seinen Kampfbrüdern ihre Schwerter auszuziehen. Kan Mirgän zog sein Schwert, das so blank war, daß sie bei seinem Schein die Spuren des Fuchses sahen. Darauf zog auch Komdei Mirgän sein Schwert und bei dem Schein der Schwerter folgen sie den Fuchsspuren. Während sie so ritten, sprang Kanna Kalas plötzlich von dem Roßrücken auf das Schwert des Kan Mirgän herab, wobei er in zwei Stücken auf die Erde niederfiel und starb. Die beiden Kampfbrüder beweinten ihn drei Tage und als sie zu weinen aufhörten, waren ihre Rosse verschwunden. Nur das Roß des Kanna Kalas stand an ihrer Seite. Nun gingen Kan Mirgän und Komdei Mirgän in verschiedener Richtung, um ihre Rosse ausfindig zu machen. Sie verirrten sich voneinander und gingen so lange bis sie aus Müdigkeit und Hunger auf die Erde niederfielen und dort liegen blieben. So lagen sie eine lange Zeit und als sie erwachten, war der Stall fort und sie selbst lagen auf einem lichten Felde. Nun kam Kanna Kalas zu ihnen, indem er ihre Rosse führte und brachte den schwarzen Fuchs an ein Seil gebunden mit sich. Alle drei machten sich nun daran, den schwarzen Fuchs zu peitschen und peitschten ihn zu Tode. Darauf begaben sie sich ins Sonnenland und waren kaum aus dem Loche gekommen, als der Alte mit den sieben Hunden ihnen entgegen kam.

Die drei Helden fielen dem Alten sofort zu Füßen und fragten ihn, was für ein Mann er wäre. Der Alte antwortet: »Gott hat bestimmt, daß ich sowohl auf als unter der Erde wandern soll und mir eine solche Macht gegeben, daß ich die Betrübten trösten und erfreuen und dagegen die Allzufrohen betrüben kann. Das Gemüt derer, die sich allzusehr anstrengen, kann ich gleicher Weise verändern, so daß sie auch heiteren Zeitvertreib lieben. Ich heiße Kögel-Chan und bin ein Schaman, der die Zukunft, die Vergangenheit und alles, was sich in der Gegenwart sowohl über als unter der Erde zuträgt, weiß.« - »Laß uns da wissen«, sagt Kanna Kalas, »was man bei uns, fern in der Heimat, macht; wenn du aber nicht die Wahrheit sagst, so hauen wir dir den Hals ab.« Der Greis zog seine Schamanenkleidung an und begann zu zaubern. Er zauberte und sagte ihnen allen die reine und wirkliche Wahrheit. (zurück) Er erzählte unter anderem, daß die drei Brüder die größten Helden der Erde wären, Kan Mirgän der größte, Komdei Mirgän der mittelste und Kanna Kalas der kleinste von ihnen. Dem Komdei Mirgän sagte der Alte, daß er seine Schwester dem Kanna Kalas zur Ehe geben und selbst Kan Mirgän's Schwester, Kanarko, zum Weibe nehmen würde. Dem Kan Mirgän aber sagt der Greis, daß er bereits verheiratet wäre und daß ihn seine Schwester im Zelte beweinte. Als der Alte dies gesagt hatte, stieg er auf sein Roß und ritt davon.

Die drei Helden begaben sich jetzt zu Komdei Mirgän, richteten ein Gastgebot an, aßen und tranken viele Tage lang. Hierbei nahm Kanna Kalas Kubaiko zur Frau und Komdei Mirgän begleitet seine Schwester und die beiden Helden zu Kan Mirgän. Hier heiratet Komdei Mirgän Kanarko. Die Hochzeit wird gefeiert und als das Gastgebot zu Ende war, reisten Komdei Mirgän und Kanna Kalas in ihre Heimat, Kan Mirgän aber blieb daheim in seinem eigenen Zelt. Fortan lebten die drei Helden daheim in Frieden und Ruhe. Weder Krankheit noch Tod hatten Macht über dieselben. (zurück)


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