Frederik Willem van Eeden
(1860-1932)
Versuch ohne Folgen


Werner Zurfluh 1979/1999
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Wenn wir uns gemütlich von den sanften Wellen der Geschichte der Auseinandersetzung mit dem luziden Traum schaukeln und vom leichten Wind der bewussten Erschliessung der nächtlichen Welt dahintreiben lassen, können wir ein frei treibendes Wrack entdecken, dessen Takelage von berühmten aber auch tragischen und verworrenen Zeiten spricht, vom Vergessen- und Missachtetwerden. Es ist das grosse Schiff 'van Eeden', jenes Holländers, der am 3. April 1860 in Haarlem - der Stadt, in der Frans Hals seine Werke malte - als Sohn vermögender Eltern geboren wurde und am 16. Juni 1932 in Bussum (vgl. Encyclopedia Britannica Vol.8, 1962:21) nach einem reichen Leben sein Werk hat zurücklassen müssen.

Das Leben dieses Dichters, Arzt und Sozialreformers spiegelt alle Kämpfe der Jahrhundertwende mit ihrer sozialistischen Aufbruchstimmung wieder, ihren tiefen Umwälzungen in der Physik, aber auch den grossen Kontroversen in der Psychologie und vor allem der Psychotherapie. Es zeigt aber auch in aller Schärfe die Tragik eines Mannes, dessen Beitrag zur damaligen Wissenschaft total ignoriert worden ist. Van Eeden wird bis heute nur von wenigen Randgruppen der Wissenschaft beachtet, von jenen nämlich, die sich dem Problem des luziden Träumen angenommen haben.

In einem luziden Traum weiss das Ich ganz genau, DASS es träumt. Es kennt die eigene Identität und den Ort, wo der materielle Körper in der Alltagswelt schläft, und es ist sich der Tatsache bewusst, dass sein Zustand nicht alltäglich, sondern traumbezogen ist.

Van Eeden hat das Konzept vertreten, dass eine 'Bewusstseins-Entität' sich vom materiellen Körper ablösen und frei operieren könne. Er hat dies auch mehrere Male selbst erfahren und die Erlebnisse sorgfältig protokolliert. Wie sehr die Erfahrungsbereiche "luzider Traum" und Ausleibigkeit bzw. Exteriorisation oder Out-of-the-Body-Experience (OOBE, AKE) jedem bekannten tiefenpsychologischen Konzept widerspricht, wird weiter unten zu besprechen sein.

Keiner der grossen Psychologen hat das Konzept van Eedens in das eigenen Gedankengebäude eingebaut. Wie hätte das auch gelingen sollen? Ein Forschungsresultat wie das eines van Eeden lebt ja direkt davon, dass das Ich-Bewusstsein im Traum kontinuierlich bestehen bleibt. Würde diese Auffassung von der Psychologie übernommen, müsste jede Art von Trauminterpretation auf einen Schlag zum Spezialfall werden bzw. zu einem Ansatz, der nur dann mehr oder weniger sinnvoll einzusetzen ist, wenn das Traumbewusstsein sich stark vom Tagesbewusstsein unterscheidet.

Die Zeit für die Ideen van Eedens war damals nicht reif, zumal der damalige Zeitgeist die absolute Gültigkeit seines Weltbildes beharrlich behauptete. Aber ohne Diskussionsbereitschaft sind 'selbst die besten Ideen völlig wertlos'. Niemand weiss sie zu schätzen, aber auch niemand kann und will sie bewerten, denn das Neuartige liegt ausserhalb des von der offiziellen Wissenschaft abgesteckten Rahmens. Und um das Jahr 1900 herum hatte die Psychologie ihre Theorie gerade frisch erarbeitet. Ein neues Grundkonzept wie die Psychoanalyse oder die Komplexe Psychologie gleicht einem rohen Ei, an das man nichts und niemanden heranlassen will.

Gerade auf dem Hintergrund jener wohl materialistischten Zeit aller Zeiten und ihren gewaltigen Auseinandersetzungen um die Anerkennung der Psychoanalyse, deren einer Höhepunkt sicherlich die Trennung C.G. Jungs von Sigmund Freud gewesen ist, dürfte der Lebenslauf eines Mannes wie Frederik Willem van Eeden nicht ganz uninteressant sein. Seine Biographie zeigt deutlich, wie sehr die Umstände gegen die Verbreitung seiner Ideen gewesen sind, nicht zuletzt wegen der wirklich unglücklichen Entwicklung der Psychologie, die sich vehement gegen jede Art von Okkultismus, Spiritismus, Theosophie und Parapsychologie abzugrenzen begann und abgrenzen musste, wollte sie nicht ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Die Parapsychologie ihrerseits hatte grosse Mühe, sich "wissenschaftlich" durchzusetzen und musste sich bald einmal statistischer Untersuchungsmethoden befleissigen, um "nicht ganz unter den Tisch" zu fallen. Und sie musste die Eigenerfahrung ausklammern.

Gegen die ‚okkulten Wissenschaften' konnte aber auch die neu aufkommende Parapsychologie nicht sinnvoll angehen - es sei denn durch ein rigoroses Ausschlussverfahren. Die unglückselige Verkettung zwischen "Objektivität" und strikter Ablehnung "subjektiver Erfahrungsinhalte" führte zu jener völligen Nichtbeachtung eines Konzeptes, dessen Anerkennung in den Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften zu einem wahrhaft revolutionären Umbruch hätte führen können. Dieser Umbruch wäre in seinen Auswirkungen wohl genauso umfassend gewesen wie der Umbruch in der Physik, der von der Newtonschen Mechanik zur Relativitätstheorie und Quantenmechanik führte.

Einige Physiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts hatten wie William Thomson, der spätere Lord Kelvin, erkannt, 'dass es am klaren, strahlenden Himmel der klassischen Physik nur zwei kleine Wölkchen gibt'. Das eine hing mit dem negativen Versuch zur Bestimmung der absoluten Geschwindigkeit zusammen, das andere mit dem Widerspruch zwischen den theoretischen und experimentellen Daten von der Ausbreitung der Energie im Spektrum eines Schwarzen Körpers. Wären diese beiden Ungereimtheiten nicht hinterfragt worden, hätte sich keine neue Physik entwickelt. Scharfsinn und Ehrlichkeit waren hierfür notwendig. Aber es gab auch härteste Kämpfe um die erkenntnistheoretischen Grundlegungen der neuen Physik. Das alles sind Dinge, die nach wie vor - ausserhalb der Physik - kaum jemals zur Kenntnis genommen werden. Der gesamte Rest der Wissenschaft fühlt sich nach wie vor nicht bemüssigt, in ihrem eigenen Gebiet ähnliche Überlegungen anzustellen, z.B. in bezug auf die Subjekt-Objekt-Frage oder die Problematik der Wiederholbarkeit und Beweisbarkeit.

In der Psychologie - vor allem in der Tiefenpsychologie - dürfte es zumindest EIN Wölkchen geben, das den sonst so klaren Himmel der psychologischen Theorien immer stärker einzutrüben beginnt. Es ist das Wölkchen der Bewusstseinskontinuität. Und dieses verschmilzt mit der Wolke eines Ich, das im Traum luzid bleibt und eine AKE (ausserkörperliche Erfahrung, OOBE, Astralprojektion) erlebt - und diese Zustände überhaupt erst ermöglicht.

Die Vorkommnisse in der Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts haben die Wolke der Ich-Bewusstseins-Kontinuität übersehen. Vielleicht wollte man sie gar nicht sehen - bis heute nicht!

(Die biographischen Angaben zu van Eeden sind folgenden Büchern entnommen: Frederik Willem van Eeden, «Glückliche Menschheit» (Berlin: S.Fischer, 1913;
Frederik Willem van Eeden, «Der kleine Johannes», autorisierte Übersetzung aus dem Holländischen von Anna Fles, Halle a.d.S.: Hendel, o.J. (1885);
Frederik Willem van Eeden, «Johannes der Wanderer», Deutsche Ausgabe von Else Otten. Berlin: Schuster & Loeffler, o.J. (1892).)


Frederik Willem van Eedens Vater war von Beruf - wie seine Vorfahren durch Generationen hinweg - Blumenhändler, der das ererbte Geschäft aus eigenem Entschluss verkauft hatte, als Frederik fünf Jahre alt geworden war. Die philosophischen und botanischen Interessen veranlassten den Vater, das Geschäftemachen aufzugeben. Lieber wollte er mit Schopenhauer und Nietzsche in einen Briefwechsel treten, Plato, Lukrez, Spinoza, die religiöse Mystik der Madame de la Motte-Guyon und sein Lieblingsbuch, die Bhagavad-Gita lesen. Auch behagte es ihm wesentlich mehr, die wilden Pflanzen zu untersuchen, statt Blumen zu züchten, 'um den Geschmack roher und gewöhnlicher Leute zu befriedigen'. 'Er liebte die Natur leidenschaftlich und spottete sarkastisch über die Menschen'.

Mit dem Umzug in die Stadt wurde der junge Frederik seiner geliebten ländlichen Umgebung entrissen. Der Schock muss für den kleinen Jungen riesengross gewesen sein, denn von diesem Tage hasste er die Stadt. Versöhnen konnten ihn nur die Ausflüge mit seinem Vater 'in den Wäldern und in den Parken privater Landsitze und besonders in den unkultivierten Dünen', die dem kleinen Frederik zu unvergesslichen Erlebnissen wurden. Er begann - wie sein Vater - 'die Natur mehr zu lieben als die Menschen', die er als 'roh, gewöhnlich, brutal und hervorragend hässlich' empfand. Sich selbst hielt er für keine Ausnahme. Verbesserung konnte er sich nur durch 'Erziehung, Selbstzucht und Selbsterkenntnis' erhoffen.

Als Frederik älter wurde, wichen seine Ansichten von denen seines Vaters vor allem auf Grund von dessen 'leichtherziger, scherzhaften Art, über einen so ernsten Gegenstand wie das Leben zu sprechen' mehr und mehr ab. Hier zeigten sich Eigenschaften der mütterlichen Vorfahren. Seine Mutter 'stammte aus einer alten holländischen Familie, die viele Geistliche der holländischen reformierten Kirche zu ihren Mitgliedern zählte'. Frederik wollte nicht 'nur ein lachender Philosoph sein, sondern ein kämpfender'.

Während seines vierzehnten Lebensjahres konnte der Knabe 'infolge einer schmerzhaften Augenkrankheitl', die ihn zwang, 'in einem dunklen Zimmer zu bleiben, weder lesen noch schreiben'. Jenes Jahr verbrachte er 'ganz geduldig, abgeschlossen von der Welt', indem er seiner Mutter 'Verse diktierte und träumte'. Seine definitive Heilung erlebte er dank der Hilfe eines 'Quacksalbers, der ein unwissender alter Bursche war, der seine augenkranken Patienten mit einer riesengrossen Zigarre im Munde untersuchte'. Hier erfuhr der junge van Eeden am eigenen Leibe jene Macht der Suggestion, die er zwölf Jahre später so intensiv bei Liébeault in Nancy studieren sollte.

Verschiedene betrübliche Erfahrungen in den folgenden, ausgesprochen sensiblen Pubertätsjahren veranlassten Frederik van Eeden, das Medizinstudium zu ergreifen, denn es schien ihm 'als wenn die Menschheit mehr der Ärzte als der Dichter und Maler bedürfe', ein Irrtum, den er erst viel später einsehen konnte. 'Zweifellos ist etwas nicht in Ordnung mit der Menschheit, aber die Ärzte werden dies niemals heilen. Wenigstens nicht die gewöhnlichen Ärzte, wie sie jetzt sind'. So begann van Eeden seinen Weg als jugendlicher Dichter, wurde Arzt, dann sozialer Reformer und endete wieder als Dichter, wie er begonnen hatte.

Das Medizinstudium war für den Studenten eine schreckliche Zeit, während der er vor allem seine Scharfsicht für die sozialen Misstände schulen konnte am Beispiel der pietätlosen Benutzung der armen, wehrlosen Kranken zu Demonstrations- und Sezierzwecken. Die Reichen behandelte man stets zuvorkommend und zurückhaltend, die Armen dagegen ohne jegliche Menschenwürde. Damals brauchte man vor allem viele Ärzte für die Kolonien und hierfür bildete man regelrecht 'fabrikmässig' aus. Der Arztberuf war zudem nicht sehr hoch angesehen und die angehenden Ärzte oft grobschlächtige Bauernlümmel und gewissenlose Städter, die bloss die gesicherte Einkommensquelle hinter ihrem zukünftigen Berufe sehen konnten.

Bert Brecht schreibt treffend: 'Der Getreidehändler Uxu hat seinen Sohn Medizin studieren lassen, damit er den Handel erlernt, so gut sind bei uns die medizinischen Schulen' (Der kaukasische Kreidekreis, Gesammelte Werke Bd.5, Frankfurt a.M. 1967: 2080f).

Frederik van Eeden schrieb während seiner Studentenzeit nicht ohne Grund ein paar Komödien. Dies entsprach der Rolle eines 'Künstlers' als geduldeter Hofnarr des Besitzbürgertums. Dabei war die Verpackung 'individualistisch', der Inhalt war jedoch kapitalistisch! In seinen Texten verspottete er die materialistische Wissenschaft. Die Komödien wurden mit einem auch für ihn selber überraschenden Erfolg auf Amsterdamer und Rotterdamer Bühnen aufgeführt.

Im Jahre 1885 gründete die neue literarische Richtung, der van Eeden als führendes Mitglied angehörte, in Holland 'ein eigenes Organ, 'de Nieuwe Gids' (guide), so genannt im Gegensatz zu der alten holländischen Monatsschrift 'de Gids'. Die neue Zeitschrift war ein Kampf- und Revolutionsorgan, das scharf und rücksichtslos gegen die Kleinlichkeitskrämerei und das Veraltete in der Literatur Front machte und den neuen Ideen kühn die Wege bahnte'. Dabei handelte es sich wohl um den 'Jugendstil' mit seiner Tendenz, soziale Probleme 'ästhetisch' zu verpacken: Fabriken im Stil von Ritterburgen, Abkehr von Problemen der Tagesrealität in Richtung Romantik. Auch ein William Morris in England war Sozialist, Künstler, Handwerker und Reformer. In der ersten Nummer der literarischen Zeitschrift wurde van Eedens Erstlingsroman 'Der kleine Johannes' abgedruckt, ein 'symbolisch-realistisches' Märchen, das ihn 'mit einem Schlage in die vorderste Reihe der holländischen Poeten' stellte.

In einem zweiten Materialientext zu van Eeden wird der 'kleine Johannes' etwas genauer erläutert, da er 'in nuce' ganz zentrale Aspekte der Problematik der Bewusstseinskontinuität darlegt und zudem eine hübsche Möglichkeit bietet, auch verwandte Fragestellungen kurz durchzugehen.

Van Eeden musste noch sein Medizinstudium mit einer Dissertation abschliessen und wurde deswegen von seinem Doktorvater nach Paris geschickt, um dort das Problem der Ernährung bei tuberkulösen Erkrankungen zu studieren. Das aber brachte ihn in die Vorlesungen Charcots und damit in den eindrücklichen Forschungsbetrieb über Hypnotismus und Suggestion. Sein Vorschlag, hierüber eine Dissertation zu schreiben, wurde abgelehnt - er hatte bei seinem alten Thema zu bleiben!

1886 konnte van Eeden die fertige Abschrift der Dissertation seinem Doktorvater überreichen; endlich war damit das Medizinstudium abgeschlossen. Van Eedens dichterische Interessen brachten es mit sich, dass er das Leben eines Landarztes von allem Anfang an gar nicht erst beginnen wollte, um nicht in der alltäglichen Routine langsam geistig unterzugehen. So kehrte er nach seiner Heirat noch im selben Jahre wieder nach Frankreich zurück, um in Paris bei Charcot und in Nancy bei Liébeault die Studien über den Hypnotismus und die Suggestion zu vertiefen.

Schon 1887 gründete Van Eeden zusammen mit A.W. van Renterghem, dem einzigen ärztlichen Kollegen in Holland, der sich für diesselbe Sache interessierte, in Amsterdam die 'Psycho-therapeutische Klinik', verliess jedoch diesen Tätigkeitbereich nach sieben Jahren wieder. Die Klinik wurde weiterhin mit grossem Erfolg von van Renterghem alleine weitergeführt. Van Eeden scheiterte wie damals wie sein Vater an der leidigen Geldfrage. Er vermochte es nicht, ärztliches Tun und Honorarforderung miteinander zu vereinbaren und hatte stets schwerste Bedenken, Rechnungen zu stellen. Ein Problem, das sich bis in die moderne ärztliche Praxis hineinzieht und nach wie vor keineswegs gelöst ist. Es gab z.B. in der Schweiz eine Krankenkassenbewegung der Arbeiterschaft, etwa der Grütli-Verein, und es gab in gewissen Bergwerken in England die Lösung, dass jeder Arbeiter monatlich einen Teil seines Lohnes an den Arzt abgab, womit gegebenenfalls eine 'freie' Behandlung gewährleistet wurde.

Seinen Wohnsitz nahm van Eeden in Bussum, einer kleinen Ortschaft in unmittelbarer Nähe Amsterdams, wo er den Angriffen seiner ehemaligen literarischen Freunde wenigstens etwas abseits des städtischen Trubels während vieler Jahre zu begegnen hatte. Leider tat er das mit viel zu wenig Vehemenz, so dass der Schaden schwerwiegend zu werden drohte. Van Eedens Menschlichkeit ging an den gesellschaftlichen Verhältnissen zu sehr vorbei, er unterschätzte die Möglichkeiten der Intriganz und der üblen Nachrede, er schätzte die Selbstverteidigung zu gering und er handelte zu versöhnlich.

Die eigenen sozialen Reformbestrebungen waren den materialistisch gesinnten Marxisten - nicht der Arbeiter sollte 'erlöst' werden, sondern der 'versteinerte Kapitalist' - ein Dorn im Auge. Sie wollten und konnten nicht einsehen, dass jeder Feldzug für eine soziale Reform mit der eigenen Einstellungsveränderung beginnen muss, und bezichtigten van Eeden eines törichten Idealismus und der Betrügerei. So scheiterte van Eedens sehr modern anmutender Versuch, das zu begründen, was man heutzutage als 'Landkommunen' und (wie damals) als 'produktive Kooperationen' bezeichnet, an zu vielen widrigen Ereignissen. Zu jener Zeit gab es eine jede Menge von Reformbewegungen: anarchistische, marxistische, sozial-demokratische oder auch Rudolf Steiners ‚Dreigliederung'.

Bis 1905 wurde van Eeden beinahe total ignoriert, lächerlich gemacht und immer wieder heftig angefeindet. Seine Vorschläge zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wurden nicht beachtet, die Unternehmensgründung zur Erprobung der Möglichkeiten eines sozialen Zusammenarbeitens scheiterte an finanziellen Problemen. Der Verein 'Gemeinschaftlicher Grundbesitz', 1901 gegründet, bestand wenigstens bis 1913, hatte aber schwer um sein Dasein zu kämpfen, da die betreffenden Mitglieder sich gegen den ausdrücklichen Rat van Eedens sträubten, die Autorität einer Person aus einer Nicht-Arbeiterklasse zu akzeptieren und Disziplin in geschäftlichen Angelegenheiten zu halten.

Im Januar 1903 wurde durch einen Streik der Eisenbahner 'die Hauptstadt der Niederlande für zwei Tage beinahe vollständig von dem übrigen Lande' abgeschnitten. Der Streik wurde zum Erfolg, der geringen Lohnerhöhungsforderung stattgegeben, doch ging die holländische Regierung sofort daran, ein Gesetz zu schaffen, das 'eine solche Demütigung der höchsten Autorität in Zukunft verhindern sollte'. Um das Durchgehen dieses Gesetzes im Parlament zu verhindern, wollte man einen allgemeinen Streik organisieren, wozu man auch van Eeden aufforderte. Dieser trat dem Führungsstab bei und reiste - bezeichnenderweise - als Arbeiter verkleidet an jenen Ort, wo er die Streikleitung übernehmen sollte, in die kleine Stadt Amersfoort, einem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt. Die Sache sollte am Montag morgen, am 6. April 1903, losgehen.

Die Organisation war aber allgemein derart schlecht - zumal kein Kapital vorhanden, die anfallenden Umtriebe zu decken -, dass die Niederlage unvermeidlich war. 'Die Regierung und die Eisenbahnverwaltung hatten ihre Vorbereitungen getroffen, man hatte viel Militär aufgeboten, obgleich nur ein Schuss und auch dieser nur durch Zufall abgegeben wurde, und es war genügender Ersatz durch nicht streikende Arbeiter vorhanden. Die Stärke des Arbeitervereins der Eisenbahnarbeiter wurde durch Einschüchterung und Bestechung vollständig untergraben'.

Die Eisenbahngesellschaft nutzte die Gelegenheit weidlich zu ihren Gunsten aus und entledigte sich mittels Aussperrung einer ganzen Anzahl von Männern, darunter auch vieler älterer Eisenbahner, die damit ihrer Pension verlustig gingen. Wer sollte sich jetzt um die über 2000 Männer kümmern? Die streikunterstützenden Parteifunktionäre der Anarchisten, freien Sozialisten und Sozialdemokraten hatten nach der Niederlage jedes weitere Interesse an einer nunmehr apolitisch gewordenen Sache verloren und überliessen es van Eeden, die hereinbrechende finanzielle Not der Ausgesperrten zu bewältigen. Zusammen mit einem Amsterdamer Juden entwickelte er eine Spar- und Finanzierungsmethode, die sich lawinenartig entwickelte und ausser Kontrolle zu geraten drohte. In diesem Moment sprang der ehemalige Helfer ab und zog sich in seine Gastwirtschaft zurück, um dann ein halbes Jahr später 'ein neues Unternehmen derselben Art' zu eröffnen und damit van Eedens Gruppe 'auf die unbarmherzigste Weise Konkurrenz' zu machen.

Van Eedens Unvermögen, in finanziellen Dingen die Übersicht zu behalten, war ihm selber nur allzu schmerzlich bewusst. Er sah sich nach einem tüchtigen Geschäftsmann um, einem 'Napoleon'. Als er ihn endlich gefunden hatte, 'übersprang er Marengo und Austerlitz und fing gleich mit Waterloo an'. Van Eeden hatte nun eine doppelte Last zu tragen. Zum einen all die Mühsal und die Rückschläge in seiner Landkommune auf seinem Besitztum, wo er mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, die schon mancher Kommunenbildung der jüngsten Zeit zum Verhängnis geworden sind. Van Eedens Ausführungen in 'Glückliche Menschheit' sind diesbezüglich äusserst lehrreich! Zum andern dann jenes Genossenschaftsunternehmen 'De Eendracht' ('Die Eintracht') in Amsterdam, 'das so beunruhigend erfolgreich geworden war'.

Die beiden Gesellschaften sollten vereinigt werden. Was die Landkommune 'Gemeinschaftlicher Grundbesitz' in Walden an Erzeugnissen produzierte, sollte seinen Absatz 'unter den Tausenden von Kunden der 'Eendracht' finden, und die 'Eendracht' sollte andererseits das Kapital schaffen für die Ausdehnung des produktiven Geschäfts'. Doch dieses Vorhaben scheiterte schon im ersten Jahr am praktischen Unvermögen der meisten Mitglieder, die niemals gelehrt wurden oder gelernt hatten, selbständig zu denken und ohne vorgestellte Autorität diszipliniert zu handeln. Das Defizit in Walden betrug mehr als einige hundert Gulden, was van Eeden aus den Einkünften aus seiner schriftstellerischen Tätigkeit decken konnte, nicht aber das Defizit der 'Eendrachtl', das über 15'000 Gulden aufwies.

Der endlich gefundene Verwalter, ein junger Autodidakt mit einem - wie es sich zeigen sollte - etwas zu gesundem Selbstvertrauen, tätigte in einer sechswöchigen Abwesenheit van Eedens zwei grosse Geschäfte, die zum endgültigen Ruin führen sollten, obwohl van Eeden nochmals 25'000 Gulden wagte, die Sache zu retten. Der Vergleich kostete van Eeden 250'000 Gulden, und er konnte anschliessend nur noch sagen, dass er 'sehr angestrengt werde arbeiten und sehr einfach werde leben müssen', wenn seine Schulden vor seinem Tode bezahlt sein sollten. Die Arbeiter-Genossenschaft in Walden brach kurz darauf ebenfalls zusammen, weil die gut gehende Bäckereigruppe sich selbständig gemacht hatte und gerade noch die gesamte Kundschaft aus Bussum hatte 'mitgehen' lassen, so dass van Eeden der einzig mit Gewinn arbeitende Betriebsteil verloren ging.

Alle diese Schicksalsschläge wurden von van Eeden als notwendige Prüfsteine betrachtet, die ihn sehr vieles lernen liessen über die praktische Realisierung von sozialen Reformen, keineswegs aber seinen 'Glauben an den schliesslichen Erfolg zukünftiger ähnlicher Anstrengungen' erschüttern konnten!

Unermüdlich ging van Eeden daran, wieder von neuem anzufangen. (Ein Vergleich mit Rudolf Steiner wäre interessant, da dieser zumindest ähnliche Erfahrungen hatte und ebenfalls weitreichende soziale Impulse von ihm ausgegangen sind.) Van Eeden berichtete 1908 auf einer Vortragsreise in den USA von ersten bescheidenen Erfolgen. Das Soziale sollte weiterhin sein zentrales Anliegen bleiben. Es ist erstaunlich, dass ein Mann wie van Eeden, der einer der ganz wenigen ist, die sich mit dem luziden Träumen und der ausserkörperlichen Erfahrung beschäftigt haben, derart stark - trotz aller Rückschläge - die sozialen Reformbestrebungen unterstützt und sogar selbst ins Leben ruft.

Spätestens bei einer Berücksichtigung von Traumkontroll-Gesprächstechniken wie etwa die der Senoi wird einem klar, weswegen dem einfach so sein muss. Wer - wie die Senoi - miteinander über das luzide Träumen und dessen Verwirklichung spricht, kommt nicht umhin, das soziale Umfeld miteinzubeziehem. (Ob die Inkas, die ein nahezu perfektes Sozialsystem gehabt haben solen, gegenüber den Träumen auch eine solche Einstelllung gehabt haben?)

Wer Bewusstseinskontinuität erreichen will, um luzid träumen zu können, darf den Tag nicht von der Nacht trennen. Ein solches Ich muss sich tagsüber an all das erinnern, was es des Nachts erlebt hat, und versuchen, das Erfahrene 'praktisch' anzuwenden. Umgekehrt muss es während des Schlafzustandes des Körpers mit seinem Bewusstsein so operieren können, dass es die Erinnerungen an das Tagesgeschehen wirklich zur Verfügung hat. Wäre dem nicht so, wäre es nicht in einem LUZIDEN Traumzustand bzw. einer OOBE. So lange der Tag von der Nacht getrennt bleibt, lässt sich keine Kontinuität erreichen.

Wird van Eedens Vorgehen mit dem Vorgehen der Senoi verglichen, wird klar, weshalb van Eeden scheitern musste. Er hatte das luzide Träumen zu wenig konsequent mit den sozialen Bestrebungen und den gesellschaftlichen Gegebenheiten verbunden und deren gegenseitige Relevanz unterschätzt. Dazu mag noch gekommen sein, dass er die Gepflogenheiten der Naturwissenschaft zu sehr berücksichtigt hatte, auch wenn ihn das Beispiel Liébeaults abgeschreckt haben dürfte - ganz abgesehen von den Schwierigkeiten in Walden und beim Eisenbahnerstreik.

Van Eeden zitiert in seinem Buche 'Glückliche Menschheit' Dr. Hilger, der die Art, wie Liébeault von seinen akademischen Kollegen behandelt wurde, wie folgt beschreibt:

'Obgleich Liébeault niemals über die Vernachlässigung, die er von seinen akademischen Kollegen erlitt, klagte oder Verbitterung zeigte und nur ruhig darauf bestand, dass seine Erfolge gründlich und ohne Vorurteil untersucht werden sollten, hatten sie doch nichts für ihn als ein verächtliches Achselzucken und Kopfschütteln. Vierzehn Jahre lang arbeitete der geduldige Arzt weiter unter Vernachlässigung, Verachtung und Hohn, bis ihn im Jahre 1880 ein alter Studienfreund, Dr. Lorrain, besuchte und die Aufmerksamkeit von Professor Bernheim auf seine bemerkenswerten Kuren lenkte. Bernheim, der zuerst ebenso skeptisch wie die andern war und bei seinem ersten Besuche kaum ein mitleidiges Lächeln unterdrücken konnte, empfand bald grosses Interesse für das, was er sah, und dann die grösste Bewunderung für den guten und einfachen Mann, der so viele Jahre die törichte, falsche Beurteilung seiner Kollegen ohne ein Wort der Verbitterung ertragen hatte'. Bernheim schrieb dann bald darauf sein klassisches Werk über die Anwendung der Suggestion zur Heilung von Krankheiten.

Van Eedens eigener Ansatz ging - und das schien er als Kenner der psychologischen Forschung jener Tage genau zu wissen - weit über das Liébeaultsche Konzept hinaus. Schon hatte er es gewagt, sich gegen Bernheim zu stellen, der nun die Schule von Nancy leitete, der auch van Eeden angehörte. Beim Kongress für physiologische Psychologie 1889 in Paris vetrat Bernheim beim Hypnotismus-Streit die Ansicht, 'jederman könne hypnotisiert werden; er gab allerdings zu, eine gewisse Beeindruckbarkeit sei Voraussetzung; Janet behauptete, nur Hysteriker und erschöpfte Personen könne man hypnotisieren, und Ochorowicz behauptete, Hypnotisierbarkeit sei ein individueller Zustand, der sowohl bei normalen als auch bei kranken Individuen vorkomme' (H.F. Ellenberger «Die Entdeckung des Unbewussten» Bd. 2 S.1011).

Frederik van Eeden schrieb 1895 - in dem Jahre, wo er sich aus seiner Klinik für Psychotherapie zurückzog -, 'dass Hypnose und Suggestion nur bei Patienten aus der Unterschicht wirkten, und er fügte hinzu: 'Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass eine Therapie nur für Krankenhaus-Patienten zu gebrauchen ist.' Man müsse eine Psychotherapie für gebildete Menschen finden; es müsse eine nicht-autoritäre Methode sein, die die persönliche Freiheit unberührt lasse. Man müsse dem Patienten erklären, was in seiner Seele vor sich gehe, und 'dass alle verwendeten Methoden nur durch seine eigene Psyche wirksam werden'' (H.F. Ellenberger «Die Entdeckung des Unbewussten» Bd. 1 S.448, Anm 247).

Van Eeden war seiner Zeit weit voraus, zumal er zwei Dinge klar erkannt hat: Psychotherapie ist auch ein soziales Problem und die angewandte Methode kann nur über die Seele des Patienten wirksam werden. Dem wäre noch hinzuzufügen: Soziale Probleme machen Psychotherapie erst notwendig!

Es war aber auch so, dass nur wenige Jahre nach den ersten grossen Erfolgen der Psychologie ein van Eeden alles wieder in Frage zu stellen begann mit seinem Konzept des luziden Träumens. Den Klartraum hatte bislang niemand beachtet - ausser der längst wieder in Vergessenheit geratene Sinologe Marquis d'Hervey-de-Saint-Denys.

Van Eeden stand zu sehr mit beiden Füssen im damaligen Wissenschaftsbetrieb und er hatte die Kongresse um die Jahrhundertwende zu oft besucht - auch als Vortragender. Deswegen hätte er zumindest ahnen können, dass sein Konzept erfolglos sein und abgelehnt werden musste. Und abgewiesen wurde es denn auch. Van Eeden ist aus dem Lande der Wissenschaft verbannt worden.

Der etwas älter gewordene van Eeden wich in gewohnter Manier in die Dichtkunst aus und veröffentlichte 1909 das Buch 'De nachtbruid'. Es kam noch im selben Jahr in Deutschland unter dem Titel 'Die Nachtbraut' heraus. Hier konnte van Eeden seine reichen Erfahrungen einem breiten Publikum vorlegen, ohne sofort von den unbarmherzigen Rädern der etablierten Wissenschaft zermalmt zu werden.

Erst 1913 in seinem Vortrag in New York vor der American Society for Psychical Research mit dem etwas unverbindlichen Titel 'A Study of Dreams' (ein Titel, der Mary Arnold Forster 1921 'wiederaufgenommen' hat als '(A) Study IN Dreams') erwähnte er die Tatsache der dichterischen Verarbeitung seiner eigenen Erfahrungen und legte der immerhin parapsychologisch geschulten Zuhörerschaft seine Ergebnisse vor. Sein Vortrag zeitigte keinerlei Folgen und geriet total in Vergessenheit. Der Hauptgrund dürfte der gewesen sein, dass die Eigenerfahrungen in die Untersuchungen miteinbezogen worden sind.

Das Scheitern van Eedens war nicht - wie beim sozialen Reformversuch - im Unverstand und Unvermögen der Arbeiter begründet, sondern in der Borniertheit und Nachlässigkeit der Wissenschaftler. Distinguierte ignorieren einfach all jene, die es wagen, sich ausserhalb des ‚Consensus' der Wissenschaft zu stellen. Diese Aussperrung brachte es mit sich, dass mit Frederik van Eeden auch der ‚luzide Traum' bzw. die OOBE für längere Zeit in der Versenkung verschwand. Es wurde für längere Zeit eine Chance vertan, die Chance, sich wissenschaftlich mit den Fragen des luziden Traumes und der ausserkörperlichen Erfahrung auseinanderzusetzen. Damit hat die Wissenschaft das Feld jenen Theosophen und Spiritisten überlassen, die vor allem das 'Astralwandern' für sich in Anspruch nehmen.

Was schon bei Liébeault geschah, wiederholte sich wieder: Der luzide Traum, der praktisch nicht einmal so selten ist, wird ignoriert und geleugnet, weil er theoretisch nicht in den Kram passt. 'Die schwerste Verantwortung fällt auf die Männer, die es besser wissen sollten - die Dogmatiker unter den Männern der Wissenschaft - und es ist nichts als dogmatischer Aberglaube, die Heilung organischer Krankheiten durch Suggestion a priori zu leugnen' oder die Möglichkeit eines luziden Träumens oder einer OOBE schlicht abzuweisen. Es ist müssig, zu fragen, was geschehen wäre, wenn die Suggestionstherapie und die Erforschung der luziden Träume und der OOBEs von allem Anfang an von der Wissenschaft akzeptiert worden wären.

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