DIE ENTFALTUNG DES BEWUSSTSEINS ALS EIN WEG ZUR SCHÖPFERISCHEN FREIHEIT - VOM TRÄUMER ZUM KRIEGER
Paul Tholey
Bewusst Sein Vol.1 No.1, 1989:25-56
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(Text ohne Anmerkungen und ohne Literaturangaben;
[] In eckigen Klammern: Angabe der Seite;
... Auslassung.)

[25] TEIL 1: GESTALTTHEORETISCHE GRUNDLAGEN

1.1 Einführende Bemerkungen

Die Gründe für mein Interesse an der Erforschung außergewöhnlicher Erfahrungen, die dabei verwendeten Methoden sowie die theoreti- [26] sche Einordnung und Anwendungsmöglichkeiten der Forschungsbefunde lassen sich am leichtesten auf der Grundlage der Entwicklung meines eigenen Weltbildes erklären. Es mag kaum glaublich klingen und nachträglich als eine glückliche Fügung des Schicksals betrachtet werden, daß ich bereits gleich zu Beginn meines Psychologiestudiums im Herbst 1958 alles hörte, was sich später zu einem komplexen Weltbild entfaltete. Vorauszuschicken ist, daß ich außer Psychologie noch andere Fächer studierte, wie es zu dieser Zeit noch möglich war und gewünscht wurde. Zu Semesterbeginn besuchte ich eine Vorlesung über Astronomie, ein Fach, das mich bereits seit meiner Schulzeit faszinierte. In dieser Vorlesung hörte ich von der Komplexität und Verwickeltheit der erfahrungswissenschaftlichen Beobachtungen und Gesetze, der mystizistischen und religiösen Vorstellungen, die schließlich zur Kopernikanischen Wende in der Astronomie führten: dem Übergang vom geozentrischen Weltbild (mit der Erde als Mittelpunkt) zum heliozentrischen Weltbild (mit der Sonne als Mittelpunkt). In diesem Zusammenhang wurde ich auch auf die Bedeutung der Planetenbahnen, insbesondere diejenige des Mars hingewiesen, der später durch die Entdeckung der sogenannten Marskanäle erneut das Interesse der Astronomen erweckte.

Daß ich nur kurze Zeit später den gestirnten Himmel und speziell die Marskanäle in völlig neuem Licht sehen würde, habe ich meiner Bekanntschaft mit der Gestalttheorie zu verdanken.

Die Gestalttheorie wurde zunächst als ganzheitliche Richtung der Psychologie von Wertheimer, Köhler und Koffka im Jahr 1912 an der Johann Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt/M. gegründet. Sie hat sich inzwischen international verbreitet und ihre Grundlagen zu einem komplexen Theoriensystem erweitert, das fast alle Wissenschaftsgebiete umfaßt (...).

Die Gestalttheorie ist nicht zu verwechseln mit der sog. Gestalttherapie von Fritz Perls, der das gestalttheoretische Gedankengut ebensowenig kannte wie andere Außenstehende, die sich auf die Gestalttheorie berufen oder sie kritisieren.

Die Bedeutung der Gestalttheorie lernte ich vor allem durch Edwin Rausch, meinen Lehrer in der Psychologie, und Kurt Kohl, meinen Lehrer in der Sportwissenschaft, kennen. Im Kolloquium von Rausch hörte ich auch erstmals von der Traumpsychologie C.G. Jungs, in die ich später durch eigene Lektüre noch tiefer einzudringen suchte. Kurt Kohl wies in seiner Veranstaltung über Kampfsportarten auf die außerordentliche Bedeutung der Erlebnisprozesse im Sport hin, wobei er insbesondere auf die Verwandtschaft von gestalttheoretischen und zenbuddhistischen Auffassungen hinwies. So kam es, daß ich mich schon früh für die japanischen Zen-Krieger interessierte. Daß zwischen der Kunst des Träumens, die ich zu erlernen suchte, und dem Weg des Kriegers (Bushido) oder Kampfsportlers (Budo) ein enger Zusammenhang besteht, sollte mir erst viele Jahre später klar werden.

1.2 Erkenntnistheoretische Wende

Der entscheidende Schritt zur Entfaltung meines Weltbildes bestand in einer erkenntnistheoretischen Wende, die durch eine Frage eingeleitet wurde, die uns Studierenden gleich zu Beginn des experimentalpsychologischen Praktikums gestellt wurde. Diese Frage gründet auf dem Gegensatz zwischen der physiologischen Auffassung, daß die Wahrnehmung von Dingen letztlich auf Hirnprozessen beruht, und der unmittelbaren Erlebnisbeobachtung, daß die Dinge außerhalb des Kopfes erscheinen. Die Frage lautete:

'Warum erscheinen die Dinge nicht im Kopf, wie es physiologische Befunde nahelegen, sondern außerhalb unseres Kopfes, wie es die unmittelbare Erlebnisbeobachtung zeigt?'

Wir sollten diese Frage durchdenken und Lösungsvorschläge am Ende des Semesters in [27] schriftlicher Fassung abgeben. Mich interessierte und beschäftigte diese Frage so, daß ich sehr intensiv über sie nachdachte, wobei ich aber immer wieder in Sackgassen geriet. Erst einige Tage später, als ich auf einem Spaziergang eigentlich an gar nichts dachte, sondern in der herbstlichen Landschaft versunken war, wurde mir die Lösung der Frage eingegeben. Beim Betrachten einer mächtigen Eiche tauchte urplötzlich die Frage auf, wie denn dieser große Baum überhaupt in meinen Kopf passen könnte. Blitzartig kam die Antwort aus heiterem Himmel oder, wenn man will, sogar von jenseits des heiteren Himmels. Es erschien mir nämlich in der Vorstellung ein riesiger Kopf, der nicht nur den Baum, sondern auch den blauen Himmel und, was besonders wichtig war, auch meinen eigenen wahrgenommenen Kopf umfaßte. Mir wurde schlagartig klar, daß die gesamte objektiv und intersubjektiv erscheinende Welt bloß eine erlebte oder phänomenale Welt in meinem physischen Kopf ist. Die Unterscheidung zwischen physischen und phänomenalen Gegebenheiten führte dann zur Auflösung des scheinbaren Widerspruchs in der gestellten Frage. Denn zwischen dem physiologischen Sachverhalt, daß die physischen Dinge über sensorische Prozesse innerhalb des physischen Kopf repräsentiert werden und der unmittelbaren Beobachtung, daß wahrgenommene Dinge sich außerhalb des wahrgenommenen Kopfes befinden, besteht kein Widerspruch mehr (...).

[28] Das neue Weltbild, das ich durch das beschriebene Schlüsselerlebnis gewann, wird im folgenden in Begriffen der Gestalttheorie näher erläutert.

1.3 Kritischer Realismus

Die erkenntnistheoretische Wende bestand in einem Übergang von einem naiven zu einem kritischen Realismus. Dieser gründet auf der strengen Unterscheidung zwischen der physischen Welt, dem Makrokosmos, und der phänomenalen (erlebten) Welt, dem Mikrokosmos. Innerhalb des Makrokosmos befinden sich so viele Mikrokosmen, wie es bewußtseinsfähige Wesen gibt. Im gewöhnlichen Wachzustand wird der physische Organismus und seine physische Umgebung über die Erregung innerer und äußerer Sinnesorgane und die nervösen Erregunsweiterleitungen in einem hypothetisch angenommenen (räumlich nicht festgelegten) Bereich des Gehirns abgebildet, der als Psychophysisches Niveau (PPN) bezeichnet wird, weil die dort stattfindenden physischen Prozesse zugleich psychisch, d.h. 'bewußtseinsfähig' oder 'phänomenal realisierbar' sind.

So kann die phänomenale Welt, die sich gewöhnlich in den phänomenalen Körper und das phänomenale Umfeld gliedert als (mehr oder weniger getreue) Abbildung des physischen Organismus und seiner physischen Umgebung verstanden werden. Die Schwierigkeiten, den Abbildcharakter der wahrgenommenen Dinge zu erkennen, besteht darin, daß sich dieser Abbildcharakter im unmittelbaren Erleben selbst nicht zeigt (und auch gar nicht zeigen kann), so daß die wahrgenommenen Dinge - selbt von renommierten Wissenschaftlern - mit den physischen verwechselt oder vermengt werden. Allerdings gehören zur gesamten phänomenalen Welt auch Gegebenheiten, deren seelischer Charakter unmittelbar im Erleben erscheint. Dies trifft auf Vorstellungen, Gedanken, Gefühls- und Willensvorgänge sowie manche Körperempfindungen (wie z. B. Schmerzen) zu. Man betrachte als Beispiel den riesigen Kopf, der mir bei dem beschriebenen Erlebnis erschien. Diesen erlebte ich nicht als objektiv, sondern als ein vorstellungsartiges, über sich selbst hinausweisendes subjektives Bild. Interessant ist, daß dieses Vorstellungsbild nicht von mir selbst, sondern von außen kam und auch dort erschien, wobei hier 'außen' natürlich im phänomenologischen Sinn gemeint ist (dies gilt übrigens ganz allgemein für neue kreative Problemlösungen).

Wenn davon gesprochen wurde, daß die wahrgenommene Welt eine Abbildung der physischen Welt darstellt, so ist der Begriff der Abbildung nur in einem sehr weiten Sinn zu verstehen, da sich die wahrgenommene und die physische Welt doch erheblich unterscheiden. Dies ist auch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, wieviel auf dem langen Weg der Informationsübertragung vom physischen Ding zum Gehirn verloren geht, und wieviel im Gehirn an 'Zutaten' hinzukommt bzw. durch Organisationsvorgänge verändert wird.

Zur Veranschaulichung des Unterschiedes zwischen wahrgenommener und physischer Welt komme ich auf die eingangs erwähnte Astronomievorlesung zurück. Genau einen Tag nach dieser Veranstaltung wurde in der Vorbesprechung für Psychologiestudierende auf das Buch 'Gesetze des Sehens' des Gestalttheoretikers Wolfgang Metzger (1953) hingewiesen. In diesem Buch belegte Metzger, daß die sogenannten Marskanäle nicht von Wesen auf einem anderen Planeten, sondern von Menschengehirnen auf der Erde geschaffen wurden. Die gesichteten 'Marskanäle' sind nichts anderes als optische Phänomene, die als 'Brückenlinien' bekannt sind und auf Organisationsgesetzen der Wahrnehmung beruhen. Auf solche Gesetze ist es auch zurückzuführen, daß wir den wahrgenommenen Nachthimmel in bestimmte Sternbilder gliedern, die mit der Gliederung des astronomischen Kosmos nichts zu tun haben.

Man denke in diesem Zusammenhang auch an das Wandern des Monds hinter den Wolken, das ebenfalls auf psychologische und nicht auf astronomische Gesetze zurückzuführen ist. Schließlich ist es wichtig, daß wir auch innerhalb gewis- [29] ser Grenzen die gesehenen Sterne willkürlich zu Gruppen zusammenschließen können, ohne daß wir hierdurch den geringsten Einfluß auf den astronomischen Makrokosmos ausüben, was sich schon daraus ergibt, daß ein anderer den Himmel in anderer Strukturierung wahrnehmen kann.

Die erkenntnistheoretische Wende, die sich bei mir vollzog, könnte man in Anlehnung an den transzendentalen Idealismus von Kant als zweite Kopernikanische Wende bezeichnen, die nach seiner Meinung darin zu sehen ist, daß sich die Gegenstände unserer Erfahrungswelt nicht nach objektiven (d.h. vom Erkenntnissubjekt unabhängigen) Gesetzen, sondern nach den Gesetzen unserer Erkenntnis richten müssen. Allerdings bestehen doch wichtige Unterschiede zwischen den Auffassungen von Kant und der Gestalttheorie. Während Kant im Sinne seiner idealistischen Auffassung die Erkennbarkeit der 'Welt an sich' völlig ablehnt, geht die Gestalttheorie im Sinne ihrer kritisch-realistischen Auffassung von einer grundsätzlichen, wenn auch kritisch einzuschränkenden, nämlich subjektbezogenenen Erkennbarkeit einer erlebnisjenseitigen oder transphänomenalen Welt aus.

1.4 Zum Erleben des Ichs

Unter dem Ausdruck ,lch' kann sehr Unterschiedliches gemeint sein. Wir betrachten im folgenden zunächst das Ich nur aus phänomenologischer Sicht. Innerhalb der Gestalttheorie unterscheidet man zwischen dem Körper-Ich, als dem wahrgenommenen eigenen Körper, und der Ichmitte oder dem Ichkern, der sich gewöhnlich beim ruhigen Schauen hinter der Stirn befindet.

Um dies zu verdeutlichen, betrachten wir den erlebten Sehvorgang im Unterschied zum physischen Sehvorgang. Von der Physik und Physiologie her wissen wir, daß bei der optischen Wahrnehmung eines Dinges Lichtstrahlen von einem physischen Objekt auf die Netzhäute der beiden Augen fallen. In der phänomenalen Welt schauen wir zumeist gerade umgekehrt auf ein Ding hinaus, wobei wir außerdem nicht aus zwei Augen, sondern aus der gesamten Stirn blicken. In Anlehnung an die griechische Sage vom Zyklopen, einem Riesen, der nur ein großes rundes Auge auf der Stirn hatte, spricht man von dem 'Zyklopenauge', mit dem wir die Umgebung betrachten. Hinter diesem Zyklopenauge befindet sich nun gewöhnlich der Ichkern oder das Ich, wie wir es vereinfacht ausdrücken wollen, wenn kein Anlaß zu Mißverständnissen besteht. Der Ort des Ichs bestimmt die Perspektive unserer Sehwelt und den Ursprung der Kräfte bei Willenshandlungen, über die das Ich erlebnismäßig frei zu verfügen scheint. Wir erleben allerdings die Einschränkung des Gesichtsfelds und die Perspektivität der Sehwelt nicht immer unmittelbar, sondern sind uns häufig der gesamten Umgebung bewußt, wenn diese auch nur 'unsichtbar vorhanden' erscheint.

Nun kann das Ich aber in besonderen Zuständen seinen Ort im Körper verlagern, oder wie es für Außerkörperliche Erfahrungen (AKE) zutrifft, aus dem Körper herausschlüpfen, in andere Gestalten hineinschlüpfen, sich vervielfachen oder völlig auflösen, wofür wir noch Beispiele geben werden. Selbstverständlich geschieht all dies gemäß der kritisch-realistischen Erkenntnistheorie nur innerhalb der phänomenalen Welt. Fliegt man etwa mit seinem 'Astralleib' im Kosmos umher, so ist es nur der Mikrokosmos oder wenn man will, der eigene (physische) Kopf, in dem man herumschwirrt.

AKE betrachten wir als Sonderfall außergewöhnlicher, d. h. vom üblichen Erleben abweichender, Ich-Erfahrungen, wozu wir als Grenzfall auch das Verschwinden des Ichs oder umgekehrt die Identifikation des Ichs mit dem gesamten Kosmos zählen. Die Möglichkeit, unsere Ich-Erfahrungen zu erweitern, ist eine wichtige Grundvoraussetzung für die Entfaltung unseres Bewußtseins.

Es ist festzuhalten, daß alle genannten Erfahrungen nur im phänomenologischen Sinn ge- [30] meint sind. Von Außerkörperlichen Erfahrungen sprechen wir demgemäß dann, wenn wir unmittelbar erleben, daß sich das Ich, sei es selbst mit einem Körper versehen oder nicht, außerhalb des als physisch erlebten Körpers befindet. Ob bei diesem Erlebnis tatsächlich etwas den physischen Körper verläßt oder nicht, ist für unsere Begriffsbestimmung unerheblich. Doch sind wir, wie bereits deutlich herausgestellt, aufgrund unserer kritisch-realistischen Position der Überzeugung, daß bei Außerkörperlichen Erfahrungen, nichts den physischen Organismus verläßt.

Ich selbst hatte zu Beginn meines Psychologiestudiums zwar noch nichts von den zuletzt angedeuteten außergewöhnlichen Erfahrungen gehört, doch faszinierten mich bereits die Sachverhalte der gewöhnlichen Erlebniswelt so sehr, daß sich mein Hauptinteresse von den physikalischen Gesetzen des Makrokosmos den psychologischen Gesetzen des Mikrokosmos zuwandte, bis ich dann lernte, daß es sich in beiden Fällen zumindest in systemtheoretischer Hinsicht um gleiche Gesetzesarten handelt, weil die Mikrokosmen Teile des einen Makrokosmos sind, der von gleicher Natur wie diese ist, worauf im folgenden eingegangen werden wird.

1.5 Das Gesetz der guten Gestalt

Nach gestalttheoretischer Auffassung ist das wichtigste dynamische Grundprinzip im Bereich des Seelischen das Gesetz der guten Gestalt oder der Prägnanz. Dieses läßt sich in zahlreiche spezielle Gesetze untergliedern, die in allen Bereichen der Psychologie erfahrungsswissenschaftlich ermittelt wurden. Man denke etwa an die Gesetze der Einfachheit, der Regelmäßigkeit, der Symmetrie, der Geschlossenheit. Diese Gesetze sind u. a. dafür verantwortlich, daß wir in der Wahrnehmungswelt nicht ein 'Chaos von Empfindungen', sondern eine Ordnung vorfinden, die zwar manchmal zu Täuschungen führt, aber eine Orientierung in der Welt überhaupt erst möglich macht.

Während man früher übernatürliche oder mechanistische Prinzipien für die Ordnung des Seelischen verantwortlich machte, zeigte der Gestalttheoretiker Wolfgang Köhler in seinem Buch über 'Physische Gestalten' (1920), daß sich solche Ordnungstendenzen immer dann zeigen, wenn eine Wechselwirkung zwischen den Teilen oder Bereichen eines umfassenden Systems möglich ist, wie dies z. B. für Feldsachverhalte jeglicher Art zutrifft. Man denke an die Ordnung der Planetenbahnen im Gravitationsfeld oder die Symmetrie in elektrischen Feldern. Köhler zeigte weiter, daß in der unbelebten Natur auch zielgerichtete Prozesse vorzufinden sind, die man zuvor nur den seelischen Vorgängen vorbehalten wollte.

Schließlich wies Köhler nach, daß in offenen Systemen eine Höherentwicklung der Ordnung auf immer komplexerem Niveau möglich ist, womit auch eine Analogie zum schöpferischen Denken, Gestalten, Handeln sowie zur Selbstentfaltung des Menschen sowie der Menschheit gefunden wurde. Spinnt man diesen Gedanken weiter, so kommt man zu dem Begriff eines 'schöpferischen Universums', von dem heute sowohl Physiker wie Biologen sprechen.

1.6 Zum Leib-Seele-Problem

Die auffallende Ähnlichkeit zwischen seelischen Prozessen mit physikalischen Feldvorgängen führte zur Annahme der Isomorphie (d. h. der Übereinstimmung bezüglich der dynamischen Struktur) von psychischen Vorgängen und den zugeordneten hirnphysiologischen Prozessen. Diese Annahme ist nicht als rein spekulative Fiktion anzusehen, sondern als heuristisch fruchtbare Hypothese, die bereits zu vielen empirischen Untersuchungen Anlaß gab. Man beachte, daß die meisten Gestalttheoretiker zwar davon ausgehen, daß man nicht zwischen psychischen und physischen Gegebenheiten im PPN trennen kann, daß sie also in dieser Hinsicht eine monistische Identitätsthese vertreten, daß man aber bei der erfahrungswissenschaftlichen Überprüfung der Zusammenhänge zwischen Psychischem und Physischem ja nur das Psychische durch Erlebnisbeobachtung unmittelbar vorfindet, während [31] man über das Physische erst etwas auf dem Weg über Meßinstrumente und Sinnesprozesse erfahren kann, wobei natürlich die Buntheit und Fülle der phänomenalen Welt verloren geht. Deshalb kann man durch empirische Untersuchungen nur eine Isomorphie, aber keine Identität feststellen. Die Identitätsannahme ist aber die einfachste Auffassung zur Leib-Seele-Frage und sie enthält keine Begriffsverwirrungen, mit denen alle konkurrierenden Auffassungen belastet sind, auf die wir in dieser Zeitschrift noch zu sprechen kommen.

Aus der Identitätsannahme folgt kein naiver Materialismus, denn durch die Gleichsetzung von Psychischem mit Physischem ändert sich nichts im geringsten an der Existenz geistiger, seelischer oder ethischer Sachverhalte. Diese sind es ja, die uns unmittelbar gegeben sind, während wir vom Physischen nur Verzerrtes und Karges vermittelt bekommen. Die Identitätsannahme führt also keineswegs zu einer 'Materialisierung', 'Entseelung' oder 'Entwertung' des Psychischen, sondern umgekehrt zu einer 'Vergeistigung', 'Beseelung' und 'Höherwertung' des Physischen. Stimmt die Identitätsannahme und erweitert man sie zu der obengenannten These, daß die Grundgesetze des Mikrokosmos die gleichen sind wie die des Makrokosmos, dann können wir diese Gesetze am unmittelbarsten im Mikrokosmos, also in der Erlebniswelt vorfinden.

Wertheimer hat in seinem Beitrag 'Über Gestalttheorie' (1925) auf die Möglichkeit einer einheitlichen und umfassenden Feldtheorie hingewiesen. Er sagt, daß zwar jedem von uns nur ein Teil der gesamten Welt gegeben sei, aber er weist auf die Möglichkeit hin, 'an einem Teil des Ganzen zu erfassen, irgendetwas zu ahnen von dem Strukturprinzip des Ganzen, wobei dann die Grundgesetze nicht irgendwelche Stück-Gesetze sind, sondern Charaktergesetze dessen, was geschieht' (S. 120). Das ganzheitlich feldtheoretische Modell wendet Wertheimer auf alle Wissenschaften an; einen Unterschied zwischen Natur- und Geisteswisschenschaften gibt es in der Gestalttheorie nicht, und es ist von diesem Standpunkt aus nicht einzusehen, warum gerade derjenige Ausschnitt der Natur, den wir am besten kennen, die Erlebniswelt, von den etablierten Naturwissenschaften, einschließlich der vorherrschenden psychologischen Richtungen, ausgeklammert wird.

1.7 Die holographische Feldtheorie

Leider waren die Gründer der Gestalttheorie ihrer Zeit zu weit voraus, so daß sie nicht mehr miterleben konnten, daß es heute bereits hoffnungsvolle Ansätze zu der von ihr geforderten umfassenden Feldtheorie gibt. Wir weisen hier nur auf den holographischen Ansatz hin. Unter einem Hologramm versteht man ein von einer fotographischer Platte in den Raum 'projiziertes' dreidimensionales Bild, für das es charakteristisch ist, daß in jedem Teil des Hologramms die vollständige Information enthalten ist, um das gesamte Bild zu rekonstruieren. Diese Tatsache hat der Hirnforscher Karl Pribram ( 1971 ) als ein adäquates Modell zur Erklärung bestimmter für das Gedächtnisvorgänge angesehen. So eignet sich dieses Modell z. B. zur Erklärung des Sachverhalts, daß trotz des Ausfalls wichtiger Hirnbereiche das Erinnerungsvermögen noch erhalten bleiben kann, da in den verbleibenden intakten Hirnteilen noch die gesamte gespeicherte Information enthalten ist. Der Gestalttheoretiker Stadler ( 1981 ) hat in einer zusammenfassenden Übersicht phänomenologischer, hirnphysiologischer, und sensumotorischer Forschungsergebnisse gezeigt, daß die Feldtheorie Köhlers in dem holographischen Modell von Pribram eine gute Bestätigung gefunden hat. Interessant ist, daß Pribram später bestimmte Schwierigkeiten seines Modells mit Hilfe der Gestalttheorie zu lösen suchte. Hierbei kam er auf den Gedanken, die holographische Theorie auf das gesamte Universum auszuweiten und er stieß dann auf die bereits vorliegende holothetische (d. h. ganzheitlich fließende) Theorie des Atomphysikers David Bohm ( 1985), eines Schülers von Einstein. Diese Theorie könnte man als eine vorläufige (noch keineswegs ausgereifte) Konkretisierung der gestalt- [32] theoretischen Annahme einer universalen Feldtheorie, die Physisches und Psychisches miteinander vereint, betrachten.

In einem holographischen Feld ist die Ordnung des Gesamtfeldes in allen seinen Teilen enthalten. So ist es durchaus möglich, daß die Ordnung des Makrokosmos in allen Mikrokosmen enthalten ist, daß wir also in der Erlebniswelt tatsächlich etwas 'von dem Strukturprinzip des Ganzen' erfassen oder erahnen können, wie es Wertheimer meinte. Allerdings ist die Ordnung des Makrokosmos gewöhnlich im menschlichen Gehirn nicht bewußt, sondern nur 'eingefaltet', um einen Ausdruck von David Bohm zu gebrauchen; sie kann aber in Zuständen höchster Bewußtseinsentfaltung im menschlichen Gehirn entfaltet werden. Natürlich ist die vorgetragene Theorie nicht frei von Spekulation, doch gibt es Erlebnisse, deren Struktur deutliche Ähnlichkeit mit einem holographischen Feld aufweisen. Es handelt sich dabei um sogenannte kosmische Erlebnisse, die bereits von den alten Weisen, den Religionsgründern, den Mystikern, kurz in der gesamten Ewigen Philosophie (philosophia perennis), beschrieben wurden. Eine der ältesten Beschreibungen der holographischen Struktur des 'Alles In Einem und Einem in Allem' beschreibt ein buddhistischer Sutra:

'Man erzählt, im Himmel Indras gebe es ein Perlennetz. Es ist so angeordnet, daß schaut man eine Perle an, alle anderen darin reflektiert werden. Und ebenso ist jedes Objekt in der Welt nicht nur es selbst, sondern bezieht alle anderen ein und ist tatsächlich jedes andere Objekt' (zitiert nach Ferguson, 1986, S.24). Ähnliche Beispiele finden sich in allen Hochreligionen.

Der japanische Philosoph Itsutsu charakterisiert in seinem Buch über die 'Philosopie des Zen-Buddhismus' (1986, S.35) diese Erlebnisform in allgemeinerer Form folgendermaßen:

'An dieser Stelle verlieren alle Dinge ihre wesentliche Begrenzung. Und da sie nicht mehr durch die ontologische Grenze zurückgehalten werden, fließen alle Dinge ineinander, einander widerspiegelnd und voneinander widergespiegelt in dem grenzenlos ausgedehnten Feld des Nichts' (S. 35).

Unter 'Nichts' oder 'Leere', wie es sonstwo genannt wird, ist hier das Verschwinden des Ichs und des ihm gegenüberstehenden Gegen-Standes gemeint. In einem solchen Zustand der Ichlosigkeit wird das Bewußtsein weiter und klarer, so daß man es, wie es Itsutsu tut, als 'Überbewußtsein' bezeichnen kann. Umgekehrt spricht Suzuki in ähnlichen Zuständen (vgl. Abschnitt 1.9) vom 'Unbewußten' (1988), was allerdings nicht mit dem psychoanalytischen Begriff des Unbewußten zu verwechseln ist, sondern nur als Unbewußt-Werden des Ichs zu verstehen ist, das die Voraussetzung für das ganzheitliche BEWUSST SEIN in der der Welt ist.

Auch eine Reihe 'paranomaler' oder 'übernatürlicher' Erfahrungen können im Rahmen einer holographischen Feldtheorie auf normale oder natürliche Weise erklärt werden. Wenn man z. B. bei einer Außerkörperlichen Erfahrung Informationen über einen entfernten Ort erlangt, die sich später als richtig erweisen, so ist dies kein Beleg dafür, daß irgendetwas den physischen Organismus verlassen und diesen Ort aufgesucht hat. Denn im Sinne der holographischen Feldtheorie könnte dies so erklärt werden, daß im Mikrokosmos etwas bewußt geworden ist (bzw. sich entfaltet hat), was bereits eingefaltet bzw. implizit in ihm vorhanden war. Im übrigen treten 'paranomale' Erfahrungen bei Außerkörperlichen Erfahrungen nicht häufiger auf als in anderen veränderten Bewußtseinszuständen (vgl . Blackmore, 1982).

Allerdings ist die holographische Feldtheorie von David Bohm, ebenso wie andere vergleichbare von Physikern stammende Kosmologien noch zu unausgegoren, um alle von der Gestalttheorie mit Hilfe der empirischen Phänomenologie (Erlebnisbeobachtung und -beschreibung) ermittelten Befunde zu erklären. Dies spricht nicht gegen die phänomenologische Methode. Denn vom erkenntnistheoretischen Standpunkt der Gestalttheorie aus können wir in einer phänomenologisch orientierten 'Psychologie in man- [33] cher Hinsicht über das Wesen des großen allgemeinen Seins zuverlässigere Auskunft erhalten als in der Physik oder, wo sonst auch immer wenn wir nur recht zu schauen vermögen' (Metzger, 1975, S. 660). Als Beleg für diese wichtige Tatsache, bietet sich nun gerade die Entdeckung holographischer Strukturen an. Während solche Strukturen bereits seit Jahrtausenden aufgrund unmittelbarer Erfahrungen bekannt waren, wurde in der Physik erstmals 1947 von Dennis Gabor (der hierfür später den Nobelpreis erhielt) auf die Möglichkeit einer physikalischen Realisierung eines Hologramms hingewiesen.

1.8 Wach-, Traum- und Klartraumzustand

Im Wachzustand steht die im PPN repräsentierte phänomenale Welt in einem sensumotorischen Regelkreiszusammenhang mit der physischen Welt. Die phänomenale Welt kann als oberstes Regulationszentrum des sensumotorischen Systems des Organismus betrachten werden, das eine kraftsparende und störungsausgleichende Steuerung des physischen Organismus in der physischen Umgebung ermöglicht (...). Aber phänomenale Sachverhalte reichen nicht dazu aus, um unser Erleben und Verhalten vollständig zu erklären. Man denke an unbewußte Prozesse, die sich auf unser Erleben und Verhalten auswirken können, ohne sich selbst im Erleben zu zeigen. Die Gestalttheorie geht davon aus, daß das PPN nur der bewußtseinsfähige Teil eines umfassenderen Hirnfeldes ist. Da wir aber von diesem Hirnfeld noch wenig Kenntnis besitzen, ist es sinnvoll, sogenannte 'quasiphänomenale' Hilfsbegriffe (...) einzuführen, wie sie auch die Tiefenpsychologen verwenden, wenn sie von unbewußten Wünschen, Bedürfnissen oder Zielen sprechen. Solange man mit dieser Redeweise nicht die Existenz eines eigenständigen Bereichs des unbewußt Seelischen verbindet, ist nichts gegen die Verwendung solcher Hilfsbegriffe, die nur der vollständigen Interpretation des Erlebens und Verhaltens dienen, einzuwenden. Wir zählen zu den unbewußten Sachverhalten u. a. alle Gedächtnisinhalte kognitiver und/oder affektiver Art, die zwar selbst nicht erlebt werden, sich aber auf das Erleben und Verhalten auswirken können. Nach gestalttheoretischer Auffassung sind diese Inhalte in einem gemeinsamen Spurenfeld gespeichert. Das heißt aber nicht, daß die Gedächtnisspuren in diesem Feld im Laufe der Zeit unverändert erhalten bleiben, sondern daß sie sich bei gegenseitiger Wechselwirkung gemäß den Gestaltgesetzen verändern können.

Unbewußte Prozesse können sich dann besonders stark auf die Gestaltung der unmittelbar angetroffenen Welt auswirken, wenn die sensorischen Wahrnehmungsprozesse an Bedeutung verlieren. Dies gilt u. a. für den Traumzustand, da beim Träumen der Einfluß sensorischer Prozesse weitgehend ausgeschaltet ist. Auf diese Weise kann in einem Traum z. B. die unbewußte Dynamik der Persönlichkeit des Träumers symbolisch zum Ausdruck gelangen, wobei sich etwa in der Bedrohung des Traum-Ichs durch eine andere Traumgestalt ein unbewußter Konflikt symbolisiert. Für unsere spätere Überlegungen ist es wichtig, daß wir, gleich wie in diesem Beispiel, ganz allgemein davon ausgehen, daß zwischen den symbolischen und den symbolisierten Sachverhalten eine dynamische Strukturverwandschaft besteht.

Nun gibt es eine besondere Form von Träumen, die ich 'Klarträume' genannt habe; diese zeichnen sich dadurch aus, daß das Traum-Ich sich darüber im klaren ist, daß es träumt, und sich im Vollbesitz seiner Gedächtnis-, Verstandes- und Willensfunktionen fühlt. (Zur genaueren Bestimmung des Klartraumbegriffs sowie seiner Abgrenzung gegenüber dem Begriff des luziden Traums vgl. Tholey, 1985.)

Die besondere Bedeutung der Klarträume für die Bewußtseins- und Persönlichkeitsentfaltung liegt darin, daß das Traum-Ich während des Träumens Einsicht in die Bedeutung des Traums gewinnen kann und durch geschicktes Interagieren mit Traumgestalten zur Lösung unbewußter Konflikte, die sein Persönlichkeitswachstum behindern, beizutragen vermag (vgl. Teil 3).

[34] Die im Klartraum angetroffene Welt wollen wir als eine 'innere' Welt bezeichnen und sie der im Wachzustand erscheinenden 'äußeren' Welt gegenüber stellen. Dieser Gegensatz betrifft nicht die Erscheinungsweise der beiden Welten, sondern deren Entstehungsbedingungen. Unter einer 'inneren Welt' wollen wir ganz allgemein eine bei klarem Bewußtsein angetroffene Welt verstehen, für deren Gestaltung nicht äußere Sinnesprozesse, sondern unbewußte Prozesse hauptverantwortlich sind.

Allerdings ist der Unterschied bezüglich der Entstehungsbedingungen nur von gradueller Art. In einigen Fällen könnte man deshalb auch von Zwischen- oder Doppelwelten sprechen. Solche Welten zeigen sich z. B. beim Einschlafen oder beim Aufwachen aus einem Traum, da hier sowohl äußere sensorische Prozesse als auch unbewußte Hirnprozesse in starkem Maß für die Gestaltung der Erscheinungswelt verantwortlich sind. Es kommt dann auch häufig zu Außerkörperlichen Erfahrungen, die wir im Teil 2 ausführlicher erläutern werden.

Doppelwelten oder zwiefache Felder, wie es Rausch (1982) ausdrückt, können im Wachzustand auch bei der Bildbetrachturig entstehen. So unterscheidet Rausch zwischen dem reellen Ich, das sich, beim Betrachten eines gewöhnlichen Gegenstandes hinter dem Zyklopenauge befindet (vgl. 1.4) und einem virtuellen Ich, dessen Standort die Entfernung und Perspektive eines wahrgenommenen Bildes bestimmt. Man denke an Kippmuster, bei denen z. B . eine Figur einmal von oben, ein andermal von unten erscheint. Dieser Perspektivewechsel ist mit einer Verlagerung des virtuellen Ichs verbunden. Obwohl es hier nur um die Änderung des Standortes eines virtuellen Ichs geht, sind trotzdem die von Rausch gefundenen Gesetzmäßigkeiten für eine Interpretation von Außerkörperlichen Erfahrungen, bei denen sich gewöhnlich das reelle Ich verlagert, äußerst wichtig. Auch im Klartraumzustand befindet man sich in einem zwiefachen Feld, der unmittelbar angetroffenen Traumwelt und der vergegenwärtigten Wachwelt, was unter anderem für das Handeln des Traum-Ichs von größter Bedeutung ist.

Bewußtseinserweiternde Erfahrungen, die der Entfaltung der Persönlichkeit dienen, können auch im Wachzustand, insbesondere durch künstlerisches Gestalten oder geeignete körperliche Übungen gefördert werden. Im Sinne des Zen-Buddhismus kann man ein solches Vorgehen als 'äußeren Weg' bezeichnen, und diesen dem 'inneren Weg', der über Meditation oder (Klar)Traum führt, gegenüberstellen. Bevor wir uns mit den Reisen in die innere Welt befassen, die im vorliegenden Beitrag im Vordergrund des Interesses stehen, werden wir kurz auf einige bedeutsame Erfahrungen im Wachzustand eingehen.

1.9 Bewußtseinsentfaltung im Wachzustand

Es wurde gesagt, daß die im PPN repräsentierte phänomenale Welt im Wachzustand als oberstes Regulationszentrum des sensumotorischen Systems dient. Nun kann sich die Organisation dieser Welt beim Erlernen künstlerischer und sportlicher Fertigkeiten grundlegend ändern. So ist es häufig zu beobachten, daß im Zuge solcher Lernprozesse das Ich zurücktritt oder völlig verschwindet. Dies ist übrigens eine allgemeine Grundvoraussetzung für schöpferisches Denken, Gestalten und Handeln (...).

Tritt das Ich völlig in den Hintergrund, dann kommt der schöpferische Einfall von 'außen' (vgl das Schlüsselerlebnis, das zu meiner erkenntnistheoretischen Wende führte in Abschnitt 1.2), die Harfe beginnt wie von selbst zu spielen, der Pinsel beginnt von selbst zu malen, wie es zen-buddhistische Künstler sagen, oder der Tennisschläger wird ein lebendiger Teil der Person und schlägt von selbst zu, wie es Boris Becker ausdrückt. Noch deutlicher wird das Einssein mit einem anderen Lebewesen. Der Reiter und Pferdekenner Sladko Solinski (1983) schreibt, daß der Lohn des Reiters, dem es mehr um das Pferd geht als um sich selbst, darin besteht, daß er 'im vollkommenen Sichverste- [35] hen mit dem Pferd, die Welt nur noch durch Pferdeaugen, über Pferdeohren und über die Witterung des Pferdes wahrzunehmen spürt' (S. 123). Es handelt sich bei diesen Vorgängen um eine wesentliche Bewußtseinserweiterung, die Solinski auch mit seinen klartraumähnlichen Erfahrungen in Verbindung bringt, worüber er mir ausführlich berichtete. Sowohl von Künstlern als auch von Spitzensportlern werden Zustände beschrieben, in denen kein Unterschied mehr zwischen Subjekt und Objekt, bzw. zwischen Ich und Gegenstand, besteht. Die Gestalttheoretiker reden von einem Verwachsen mit dem Umfeld, von gefühlsartiger Verschmelzung aller Sinneswahrnehmungen, von einem 'Verketten' mit anderen Personen und ähnlichen Erlebnissen (...).

Werden blitzschnelle Reaktionen auf wechselnde Umweltsituationen gefordert, so ist man 'wach im ganzen Raum', der zugleich als 'plastisches' Kraftfeld erspürt, gefühlt, gehört und gesehen wird. Voraussetzung für solche Zustände höchster Wachheit ist das Verschwinden jeglicher Ichzentrierung. Dies betrifft Sinne, Aufmerksamkeit, Gefühls- und Willensvorgänge, die in untrennbarer Einheit erlebt werden.

Mehr abstraktiv als dem konkreten Erlebniszusammenhang entsprechend, wird dies kurz erläutert. Beim Skifahren wird die Erregung der Sinnesorgane nicht als Druck auf die Fußsohlen erlebt, sondern als Erfassen der Beschaffenheit des Schnees und des Geländes über die Skier, die zu lebendigen Sinnes- und Bewegungsorganen werden, die Aufmerksamkeit wird nicht vom Ich gelenkt, sie ist beweglich und wendet sich von selbst dorthin, wo sie gebraucht wird; man erlebt ferner keine Ich-bezogenen Gefühlsbewegungen, sondern erfühlt die Mit- und Umwelt; statt in der Angst stecken zu bleiben, erspürt man jede Gefahr, statt im eigenen Seelenleben gefangen zu sein, öffnet sich einem die Seele des Gegenübers. Statt daß das Ich willentlich handelt, geschieht dasjenige selbst, was von der Gesamtlage dynamisch gefordert wird. Dies ist es, was in der Gestalttheorie als Handeln in schöpferischer Freiheit bezeichnet wird, und was die Zen-Krieger in ähnlicher Weise beschreiben, wenn sie vom 'unbewegten Begreifen' (vgl. hierzu Takuan, zit. bei Suzuki, 1941 ) oder 'unbeweglichen Prajna' (Suzuki, 1988) sprechen. Vom Standpunkt solcher Zustände aus betrachtet, ist die gewöhnliche Wachwelt im Sinne des Zen-Buddhismus bloß eine vom Ich-Wahn verzerrte Schein- oder Traumwelt (Innerhalb des Buddhismus wird diese Scheinwelt auch als 'Maya' bezeichnet). Derartige Erfahrungen können nicht nur zu einer vorübergehenden Klarsicht der Welt, sondern zu einer überdauernden Bewußtseins- und Persönlichkeitsentfaltung führen (vgl. Tiwald, 1981).

Der Zustand des 'unbewegten Begreifens' ähnelt zwar der in Abschnitt 2.1 beschriebenen kosmischen Erfahrung, weil in beiden Erlebnisformen der Unterschied zwischen Ich und Gegen-Stand verschwindet; doch können kosmische Erlebnisse auch bei der Meditation oder im Klartraum auftreten, während das 'unbewegte Begreifen' ein Zustand höchster Wachheit und leib-seelischer Beweglichkeit ist, die es ermöglicht, 'schneller als der Blitz' zu reagieren. Dies ist wörtlich zu nehmen; setzt aber voraus, daß die Aufmerksamkeit sich bereits auf virtuell vorweggenommenes Geschehen erstreckt, so daß die Reaktionen ohne jede Verzögerung erfolgen können.

Im Gegensatz zu den eben geschilderten Erfahrungen, bei denen das Ich zurücktritt oder völlig verschwindet, werden im folgenden Erlebnisse von Sportlern geschildert, in denen das Ich seinen Ort verlagert, wie es für Außerkörperliche Erfahrungen charakteristisch ist. So fährt z. B. der Spitzenkönner im Slalom im 'Geiste' schon seinem Körper voraus, wobei es sich dabei nicht um eine vom Ich bewußt herbeigeführte Vorstellung handelt, sondern um eine von der wahrgenommenen Gesamtsituation angeregte Bewegungsvorwegnahme. Ferner kann man sich [36] aufgrund von Resonanzvorgängen in einen vorausfahrenden Skiläufer, dem man blindlings vertraut, mit seinem Ich hineinversetzen, so daß nur eine einzige Person erlebnismäßig fährt. Außerdem ist es möglich, z. B. beim Autofahren mit seinem Ich aus dem Körper herauszuschlüpfen, um es aus der Vogelperspektive besser steuern zu können (wz vgl. Twitchell).

Alle beschriebenen Erlebnisse lassen sich aufgrund von Organisationsprozessen im Hirnfeld erklären, wofür die Gestaltgesetze des sensumotorischen Lernens verantwortlich sind (...). Diese Umgestaltung des Hirnfeldes dient der besseren Auseinandersetzung des physischen Organismus mit der physischen Umgebung.

Eine andere Erklärung erfordern die Außerkörperlichen Erfahrungen, die bei sportlichen Dauerbeanspruchungen, wie z. B. beim Langstreckenlaufen oder -schwimmen auftreten. Hier erlebt der Sportler, daß er über seinem sich weiter bewegenden Körper schwebt. Er spürt dabei keine Anstrengung mehr, sondern ein Gefühl der Leichtigkeit und der Freiheit. Vielleicht ist dieses Erlebnis darauf zurückzuführen, daß zur Mobilisierung der letzten Kraftreserven bestimmte körpereigene Drogen (Endorphine) ausgeschüttet werden, wofür letztlich wohl der Sauerstoffmangel verantwortlich ist. Sauerstoffmangel oder Sauerstoffüberschuß spielen ja auch bei verschiedenen Atemtechniken zur Herbeiführung von Außerkörperlicher Erfahrungen eine Rolle.

Wenn wir hier auf Außerkörperliche Erfahrungen im Sport hingewiesen haben, dann u. a. deshalb, um zu zeigen, daß es sich um Phänomene handelt, die keineswegs nur in veränderten Bewußtseinszuständen, sondern beim Handeln im Wachzustand vorkommen und dort eine nützliche Funktion haben. Leider trauen sich manche Sportler nicht, über diese Erlebnisse öffentlich zu berichten, weil sie diese für abnorm halten. Das liegt an ihrem naiven physikalistischen Weltbild, das sie übrigens mit den meisten Sportwissenschaftlern teilen, die diese wichtigen Erlebnisse entweder überhaupt nicht erwähnen oder sie fälschlicherweise als übernatürlich einstufen, wie z. B. White und Murphy in ihrem Buch 'PSI im Sport. Der Einfluß übernatürlicher Wahrnehmungen auf Spitzenleistungen im Sport' (1983).

Geht man von den im Wachzustand auftretenden Erscheinungen zu den Übergangserlebnissen beim Einschlafen oder Aufwachen und schließlich zu den Erscheinungen im Schlaf über, wird der Einfluß der Sinnesprozesse immer geringer, so daß häufiger mit außergewöhnlichen Ich-Erfahrungen zu rechnen ist, auf die wir im folgenden Teil eingehen werden.

TEIL 2: DIE ERFORSCHUNG DER INNEREN WELT

2.1 Beginn der eigenen Reisen in die innere Welt

Ich komme zunächst wieder auf das eingangs geschilderte Schlüsselerlebnis, das zu meiner erkenntnistheoretischen Wende führte, zurück. Als mir bei diesem Erlebnis deutlich wurde, daß die gesamte objektiv erscheinende Welt nur eine in meinem physischen Kopf befindliche Erlebniswelt war, mutete mich diese Welt sogleich wie eine Traumwelt an, und ich fragte mich, ob ich denn nicht mit gleicher Bewußtseinsklarheit wie im Wachzustand auch die im Traum erscheinende Szenerie beobachten und in ihr handeln könne. Diese Idee setzte ich allerdings erst neun Monate später in die Tat um.

Ich stellte mir tagsüber häufig die Frage, ob ich wache oder träume, in der Hoffnung, daß diese Frage auch im Traum auftauchen würde und ich anhand irgendwelcher Kriterien erkennen könne, daß ich träume. Nach etwa vier Wochen wurde diese Hoffnung erfüllt. Ich begegnete einer Tante, von der ich wußte, daß sie verstorben war. Das Erlebnis war wegen der unglaublichen Echtheit der Traumszenerie und der Personen und der Gespräche mit diesen faszinierend. Doch nach einiger Zeit fühlte ich eine Beklemmung, weil ich von einer solchen Erlebnisfomm noch nie etwas gehört hatte und nicht wußte, wie und wann ich aus dieser für mich neuen Welt hin- [37] auskommen könnte. Nun, ich kam wieder heraus, und mein erster Gedanke war, wieder solch aufregende Erlebnisse herbeizuführen, aber ohne dabei eine Beklemmung fühlen zu müssen.

Auf der Grundlage der Ergebnisse der physiologischen Traumforschung und einiger Zusatzannahmen, kam ich dann auf den Gedanken, daß ich durch die Blickfixation einer ruhenden Stelle der Traumszenerie aufwachen könne. Als mir dies gelang, versuchte ich später, genau zu beobachten, was mit meinem Körper, der doch im Traum vielleicht stehend erlebt wird, beim Aufwachen passiert, wo der Wachkörper doch im Bett liegend erlebt werden muß. Bei diesen Beobachtungen hatte ich bald meine erste Außerkörperliche Erfahrung, wenn auch nur für sehr kurze Zeit, denn mein Traumkörper schien in den phänomenalen Wachkörper hineinzuschlüpfen.

Aber es gab noch eine Reihe anderer Erlebnisse beim Aufwachen. So schien sich manchmal während des Träumens ein im Bett liegender Wachkörper einzublenden, der immer deutlicher zu werden schien, während der Traumkörper allmählich ausgeblendet wurde. Dieses Erlebnis läßt sich mit dem Phänomen des Überblendens beim Film vergleichen. Meistens erlebte ich aber nur einen einzigen Körper, der sich vor dem Aufwachen etwas verflüchtigte, sich dann plötzlich im Bett befand und zugleich feste Grenzen annahm (...).

Derartige Erlebnisse beim Aufwachen führten mich später dazu, während des Einschlafvorgangs gerade umgekehrt vom Wachkörper mit klarem Bewußtsein in einen Traumkörper zu gelangen.

Daß ähnliche Erscheinungen bereits in der parapsychologischen Literatur beschrieben worden waren, erfuhr ich erst zehn Jahre später durch die Lektüre der Bücher von Celia Green (1968) und Charles Tart (1969). Dort las ich auch erstmals etwas über 'luzide Träume' (van Eeden 1918). Doch mittlerweile hatte sich mein Erfahrungsschatz an außergewöhnlichen Erlebnissen bereits so bereichert, daß meine eigenen Erfahrungen weit über die in diesen Büchern geschilderten hinausreichten.

Ich beziehe mich im folgenden fast ausschließlich auf eigene, in Zusammenarbeit mit meinen Studenten und Mitarbeitern an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt durchgeführte, Forschungen. Es gibt allerdings eine Reihe anderer Autorinnen und Autoren, mit denen wir bezüglich mancher Techniken zur Herbeiführung Außerkörperlicher Erfahrungen sowie spezieller Erlebnisformen mehr oder weniger übereinstimmen, wie z. B. Susan Blackmore (1962), Scott Rogo (1983), Ernst Waelti (1983), Werner Zurfluh (1983), auf dessen interessante detaillierte Kommentierungen wir zwar nicht hier, aber hoffentlich später eingehen können. Vom Standpunkt des kritischen Realismus der Gestalttheorie aus stimme ich allerdings im Hinblick auf die empirische Erhebung der Befunde sowie deren theoretische Einordnung weniger mit anderen Forschern auf diesem Gebiet überein. Am meisten distanziere ich mich von den Auffassungen der Spiritisten und Okkultisten, die der Meinung sind, daß es sich bei den Gestalten, denen man auf inneren Reisen begegnet, um die Geister Verstorbener oder irgendwelche geisterhafte Wesen anderer Art handelt. Solche Vorstellungen können nicht nur die in Teil 3 beschriebene Möglichkeit der Bewußtseins- und Persönlichkeitsentfaltung durch innere Reisen behindern, sondern sogar starke Ängste hervorrufen, die im ungünstigen Fall zu einem Phänomen der Besessenheit führen, das man nach Hans Bender als 'Mediumpsychose' bezeichnet. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daß wir eine Reihe von Personen von ihren Ängsten, die durch falsche Auffassungen über die Natur ihrer außergewöhnlichen Erfahrungen herrührten, durch geeignete Aufklärung im Sinne des kritischen Realismus schnell befreien konnten.

2.2 Zur Strategie der Erforschung der inneren Welt

Die Methoden, die mich und die mit mir zusammenarbeitenden Personen zu unseren ersten Reisen in die innere Welt geführt hatten, sowie die Mannigfaltigkeit der dort erfahrenen Erleb- [38] nisse warf eine Fülle verwickelter Fragen auf, denen wir uns meines Erachtens nur deshalb sachgerecht stellen konnten, weil wir ohne Vorerfahrungen auf diesem Gebiet zu forschen begannen und uns dabei weder an das einseitig physikalistische Weltbild der westlichen 'Naturwissenschaften' noch an das phänomenologistische Weltbild der fernöstlichen Lehren klammerten, sondern von dem umfassenderen Weltbild der Gestalttheorie ausgingen (...). So stützten wir uns u. a. auch auf die wichtigste Forschungstheorie der Gestalttheorie: die experimentelle Phänomenologie. Bei dieser Methode werden zwar wie bei anderen Experimenten auch Bedingungen variiert und kontrolliert, um deren Auswirkungen zu erkunden, aber es werden auch die durch Erlebnisbeobachtungen- und beschreibungen gewonnen Ergebnisse berücksichtigt. Befunde über Phänomenzusammenhänge werden dann als intersubjektiv gültig anerkannt, wenn mehrere Personen, unabhängig voneinander, über gleiche Erlebniszusammenhänge berichten. Daß sich 'Intersubjektivität' nur subjektiv festellen läßt, dürfte aus unseren erkenntnistheoretischen Überlegungen klar geworden sein. (...). Gemäß der skizzierten Forschungsstrategie wurden insbesondere auch die meisten im folgenden beschriebenen Techniken zur Reise in die innere Welt entwickelt.

2.3 Techniken zur Reise in die innere Welt

2.3.1 Die Klarheit gewinnende Technik


Bei der Beschreibung der Methoden, die zur Herbeiführung von Klarträumen führen (...), habe ich zwischen Klarheit gewinnenden (KLG) Techniken und Klarheit bewahrenden (KLB) Techniken zur Klartrauminduktion unterschieden. Zu den KLG-Techniken zählt die eingangs dieses Teils beschriebene Technik, bei der ich mir tagsüber mehrfach die Frage stellte, ob ich wachte oder träumte, um dadurch zu einer allgemeinen kritischen Einstellung gegenüber meinem Bewußtseinszustand zu gelangen. Ich hatte diese Technik später Reflexionstechnik genannt und sie dann durch Hinzunahme einer Autosuggestions- und Intentionstechnik zu einer kombinierten Technik erweitert (vgl. z.B. die 'Zehn Gebote zum Erlernen des Klarträumens' in Tholey & Utecht, 1989). ...

Meine Reflektionstechnik kann man in Anlehnung an diese Autoren etwa durch folgende Anweisungen charakterisieren:

1. Stellen Sie sich etwa fünf bis zehn mal am Tag die Frage, ob Sie wachen oder träumen, (wz wegen des umgangssprachlichen Gebrauchs der Worte ‚wachen' und ‚träumen' sollte diese Frage unbedingt modifiziert werden zu: "Stellen Sie sich etwa fünf bis zehn mal am Tag die Frage, ob Sie sich als WACHES (d.h. bewusstseinskontinuierliches Ich) im Wachzustand des physischen Körpers (‚wach') oder im Schlafzustand des physischen Körpers (‚Traum') befinden")

a) wobei Sie sich vorzustellen versuchen, im Traumzustand zu sein,

b) möglichst immer, wenn Sie im gegenwärtigen oder vorausgehenden Geschehen auf Ungewöhnliches oder auf Gedächtnislücken stoßen,

c) möglichst immer, wenn die Geschehnisse Ähnlichkeit mit Trauminhalten, insbesondere solchen, die in Ihren eigenen Träumen wiederkehren, haben.

d) nehmen Sie sich dabei vor, eine einfache unauffällige Handlung, z. B. eine Handbewegung, vorzunehmen.

Price & Cohen haben meine Reflexionstechnik als ein aktives Bewußtheits-Training (lucid-awareness training) charakterisiert, bei dem man Geschehnissen mit kritischreflektiver Einstellung begegnet, und diesem ein passives Bewußtsheits-Training gegenübergestellt, bei dem die Geschehnisse mit rezeptiver Aufmerksamkeit verfolgt werden. Ich halte beide Trainingsformen für sinnvoll, habe aber immer betont, daß für den 'Klartraumanfänger' die aktive Technik zu bevorzugen ist, die dann bei hinreichender Ubung überhaupt nicht mehr notwendig ist, weil sie in eine passiv rezeptive Einstellung umschlägt. In meinen Lehrveran- [39] staltungen habe ich diesen Übergang von einer aktiv reflektierenden zu einer passiv rezeptiven Einstellung an Beispielen aus dem Sport erläutert. So ist es dem Skianfänger zu raten, zunächst aktiv auf gewisse Gefahrenstellen im Gelände, z. B. Eisplatten zu achten, was später dazu führt, daß er auch bei passiv rezeptiver Einstellung diese Gefahrenstellen sofort erspürt und entsprechend handelt. Ähnlich ist es beim BewußtheitsTraining. In der Anfangsphase ist die kritische Frage 'Träum ich oder wach' ich?' aktiv zu stellen, wobei dann auf ungewöhnliche Geschehnisse in der Gegenwart und Vergangenheit oder auf Gedächtnislücken zu achten ist. Im Verlauf der Übung kommt es zu einer passiv rezeptiven Einstellung, die bei ungewöhnlichen Geschehnissen je nach dem Ausmaß, wie diese vom üblichen Wachleben abweichen, zur unmittelbaren Erkenntnis des Traumzustands oder zumindest zum Zweifel über den Bewußtseinszustand führen, die dann durch bestimmte Traumkriterien (...) zu beheben sind.

Das hierin bestehende Bewußtheits-Training führt nicht nur zur Klarheit über den Bewußtseinzustand, sondern auch zur Klarheit über die Möglichkeit des eigenen Tuns (vgl. hierzu die unter (d) beschriebene handlungspezifische Intention), die übrigens von manchen Philosophen als notwendiges Bewußtseinskriterium angesehen wird.

In der Weiterführung meiner Forschungen bin ich dann auch dazu übergegangen, nicht nur aktiv zu fragen bzw. passiv zu beobachten, was ich tue, getan habe und zu tun beabsichtige, sondern gleichzeitig mir des Grunds oder Sinns dieses Tuns bewußt zu werden. Schließlich habe ich diese Fragen bzw. dieses Beachten nicht nur auf das Tun, sondern auch auf das Denken, Vorstellen und Fantasieren (...) sowie das künstlerische Gestalten ausgedehnt. All dies kann als Training zur Bewußtseinsklarheit im Wachzustand aufgefaßt werden, wobei ich es dem Leser überlasse, welche der in meinem ersten Beitrag unterschiedenen sechs Klarheitskriterien jeweils von den vorgeschlagenen Ratschlägen am meisten betroffen werden. Ich halte dieses Training der Bewußtseinsklarheit im Wachzustand insgesamt für eine natürliche Technik, die bereits schon zur Selbstheilung und Selbstentfaltung beiträgt, bevor der erste Klartraum erlebt wird.

Es bleibt noch etwas zur Autosuggestionstechnik zu sagen. Bei dieser Technik suggeriert man sich möglichst vor dem Einschlafen im entspannten Zustand (wozu man autogenes Training, progressive Relaxation oder eine der vielfältigen auf dem heutigen Psychomarkt angebotenen Entspannungstechniken verwenden kann), daß man Klarträumen wird. Vom theoretischen Standpunkt aus, betrachte ich allerdings auch die Autosuggestion als einen Fremdeingriff, wobei nun nicht wie bei der Fremdhypnose ein anderer Mensch, sondern ich selbst derjenige bin, der durch fremde Mittel in mein Seelenleben eingreift. Wie dem auch sei, wir arbeiten zur Zeit noch an der Verbesserung ungefährlicher natürlicher Methoden zur Klartrauminduktion und werden darüber berichten, wenn sich neues ergibt.

Bei allen folgenden Methoden handelt es sich um KLB-TECHNIKEN, die vielleicht schwieriger zu erlernen sind, die ich selbst aber bevorzuge, weil sie es mir gestatten, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu ganz bestimmen Zeitpunkten vom Wachzustand in den Klartraumzustand überzugehen, und dann manchmal während des gesamten Schlafs die Bewußtseinsklarheit aufrechtzuerhalten.

2.3.2 Austritt aus einem erstarrten Körper

Will man beim Einschlafen die Bewußtseinsklarheit erhalten, so erlebt man zuweilen, daß der Körper erstarrt, so daß man ihn nicht mehr willentlich bewegen kann. Beim Erlebnis der Starre oder Unbeweglichkeit muß, physiologisch gesehen, keine Muskelstarre vorliegen. Bei entsprechenden Untersuchungen im Schlaflabor wurde bei mir selbst, während des Erlebnisses der Unbeweglichkeit völlige Muskelentspannung, wie sie im Tiefschlaf auftritt, festgestellt. Für den [40] Unerfahrenden kann dieser Zustand unangenehm und mit Ängsten verbunden sein. Für den Erfahrenen ist er hingegen eine willkommene Gelegenheit zum Beginn einer Reise in die innere Welt. Manchmal löst sich von dem erstarrten Körper spontan ein zweiter 'feinstofflicher' Körper, in dem dann zumeist der Sitz des Ichbewußtseins ist. In seltenen Fällen ist der Zweitkörper noch mit einer Art Schnur, der sog. 'Silberschnur' der Okkultisten, verbunden. Auch ich selbst spürte ursprünglich eine solche Verbindungsschnur, zerriß sie aber, weil ich nichts mit ihr anzufangen wußte. Nach okkultistischer Lehre schwebe ich jetzt völlig losgelöst in einer Astralwelt, bin also tot, wovon ich selbst als 'Uneingeweihter' leider noch nichts bemerkt habe.

Es gibt nun eine Reihe von Möglichkeiten, aus dem unbeweglichen Körper bewußt auszutreten. Manche stellen sich einen Zweitkörper vor und schweben, purzeln oder fallen mit diesem aus dem erstarrten Körper heraus. Dabei wird der Zweitkörper aber nicht mehr als bloß vorgestellt, sondern als real, wenn auch nicht so fest wie der erstarrte Körper, erlebt. Es ist auch möglich, als 'Ich-Wolke' oder als 'Ich-Punkt' aus dem erstarrten Körper zu schlüpfen.

In diesem Zusammenhang sind phänomenologische Unterscheidungen zu treffen, die dazu verhelfen sollen, die beschriebenen Erscheinungen etwas näher zu charakterisieren und zu erklären. Im Wachzustand können wir gewöhnlich zwischen real erscheinenden Gebilden, wie z. B. den Wahrnehmungsdingen und bloßen Vorstellungen klar unterscheiden. Wird aber der sensorische Einfluß geringer, zeigen sich Übergangsformen, bei denen z. B. Vorstellungen immer mehr Wahrnehmungscharakter annehmen (wz Ideoplastie), bis sie schließlich wie reale Gebilde erscheinen. Man kann die Verwirklichung solcher Gebilde innerhalb gewisser Grenzen absichtlich herbeiführen.

Der Unterschied zwischen bloß vorgestellten und real erscheinenden Gebilden darf nicht verwechselt werden mit dem Unterschied zwischen grobstofflichen und feinstofflichen oder wolkenähnlichen Gebilden. So wird die Ich-Wolke als real und nicht als bloß vorgestellt erlebt, (obwohl sie weder eine feste Form besitzt, noch aus festem Stoff besteht) ähnlich wie eine im Wachzustand gesehene Wolke real erscheint und von der bloßen Vorstellung einer Wolke zu unterscheiden ist. Ein feinstofflicher Körper ist erst recht nicht mit einer Vorstellung zu verwechseln. Im Gegensatz zu der Ich-Wolke hat er gewöhnlich klare Grenzen. Die 'Feinstofflichkeit' zeigt sich in ihrer Leichtigkeit, sowie in der Möglichkeit, Wände zu durchdringen.

Bereits im Anschluß an diese phänomenologischen Unterscheidungen möchte ich auf einen Sachverhalt hinweisen, der für unsere Interpretation solcher Erlebnisse von Bedeutung ist. Belastet man sich nicht mit okkultistischen Vorstellungen, dann kann man lernen, eine Ich-Wolke in einen festen Körper zu verwandeln oder umgekehrt einen grobstofflichen Körper zu einer Ich-Wolke oder einem Ich-Punkt zu verflüchtigen. Meines Erachtens läßt sich all dies nicht mit der okkultistischen Annahme verbinden, daß bei Außerkörperlichen Erfahrungen ein feinstofflicher 'Astralkörper' den physischen Organismus verläßt. Dies kommt bei Beschreibung der folgenden Techniken noch deutlicher zum Ausdruck.

2.3.3 Einblenden eines Zweitkörpers außerhalb des erstarrten Körpers

Auch diese Technik beruht auf der Tatsache, daß es in dem Übergangszustand beim Einschlafen möglich ist, Vorstellungen real erscheinen zu lassen. Im Gegensatz zur ersten Technik stellt man sich jetzt einen Zweitkörper vor, der sich bereits außerhalb des erstarrten Körpers befindet. Hierbei wird der Zweitkörper in seiner Erscheinungsweise zunehmend realer, während der im Bett liegende Körper immer unwirklicher erscheint. Häufig 'springt' dann plötzlich das Ichbewußtsein in den Zweitkörper, wobei der Erstkörper verschwindet, wenn er nicht angeblickt wird.

[41] 2.3.4 Verlagerung des erstarrten Körpers

Im Gegensatz zu den beiden ersten Arten von Techniken stellt man sich jetzt überhaupt keinen zweiten Körper vor, sondern versucht den erstarrten Körper in einer anderen Lage oder an einem anderen Ort im Zimmer zu erleben. Dies fällt relativ leicht, da die sensorischen Prozesse in diesem Zustand kaum noch Einfluß auf die Gestaltung des Erlebten haben. Statt des Erlebnisses im Bett zu liegen, kann man sich beispielsweise vorstellen, aufrecht zu stehen. In solchen Fällen löst sich meist schlagartig die Erstarrung des Körpers und er läßt sich willentlich bewegen.

In diesem Zusammenhang sei auf ein aufschlußreiches Erlebnis eines Studenten hingewiesen. Dieser hatte bereits die Erfahrung gemacht, daß er sich aus dem erstarrten Körper zur Decke schwebend lösen kann. Als er später wieder einmal in den Zustand der Erstarrung fiel, versuchte er zu realisieren, sich bereits an der Decke des Zimmers zu befinden, was ihm auch tatsächlich gelang. Da kam ihm aber sogleich der Gedanke, daß er wieder herunterfallen könnte und im selben Augenblick ließ ihn, wie er sich ausdrückte, 'die phänomenale Schwerkraft wieder zurück ins Bett plumpsen'.

Dieses Beispiel zeigt, daß dasjenige, was in solchen Zuständen im Innern einer Person vorgeht, das äußere phänomenale Geschehen mitbestimmt, obwohl es hier nicht ganz klar ist, ob das bloße Wissen um die Schwerkraft oder die dadurch hervorgerufene Befürchtung zu fallen, die 'phänomenale Schwerkraft' zum Wirken brachte. Aber aus anderen Erlebnisberichten geht deutlich hervor, daß in der inneren Welt - um es in Anlehnung an die Bibel auszudrücken - der Glaube Berge versetzen kann und Kleingläubigkeit einen in den Fluten versinken läßt.

2.3.5 Verflüchtigen des Wachkörpers

Wenn ich zuvor relativ ausführlich auf Techniken eingegangen bin, bei denen eine Erstarrung des Körpers erlebt wird, dann vor allem deshalb, um demjenigen, der einmal in einen solchen Zustand geraten sollte, die Angst zu nehmen. Es gibt aber eine Reihe von Techniken, in denen überhaupt keine Erstarrung erlebt wird. So kann man unmittelbar vor dem Einschlafen, wenn die sensorischen Prozesse ihren Einfluß verlieren, den Körper zunächst in seinen Grenzen verflüchtigen und dann zu einer Ich-Wolke werden lassen. Hierzu braucht es einige Übung, um den rechten Augenblick zu erwischen, um mit klarem Bewußtsein die Reise in die innere Welt zu beginnen. Es ist nicht sinnvoll, ungeduldig diesen Zeitpunkt abzuwarten, sondern z. B. ein Buch zu lesen, bis einem die Augen von selbst zuzufallen scheinen; löscht man dann das Licht, um 'in den Schlaf zu kommen', ist genau der richtige Zeitpunkt gekommen, den Körper verflüchtigen zu lassen. Wenn man zu einer Ich-Wolke geworden ist, gelangt man in einen Schwebezustand, in dem man sich nach bestimmten Richtungen frei bewegen kann. Für den Geübten ist es möglich, sich wieder einen Körper mit klar umrissenen Konturen zuzulegen, der je nach Absicht von grobstofflicher oder feinstofflicher Natur ist. Zur Wandlung von einem wolkenartigen Gebilde zu einem klar umrissenen Körper ist es zweckmäßig, zu einer Wand zu schweben. Je nachdem, ob man die Wand durchdringen kann oder nicht, vermag man dann auch unmittelbar zu überprüfen, ob es einem gelungen ist, sich wunschgemäß einen feinstofflichen oder grobstofflichen Körper zuzulegen.

2.3.6 Unmittelbarer Übergang vom Wach- zum Traumkörper

Manchmal wandelt sich der Wachkörper während des Einschlafprozesses unmittelbar, d. h. ohne einen Zwischenzustand der Starre oder Verflüchtigung, in einen Traumkörper, der zunächst in der gleichen Lage erlebt wird wie der vor dem Einschlafprozeß wahrgenommene Körper. Wegen der beim Übergang vom Wach- zum Schlafzustand bezüglich Lage und Beschaffenheit ähnlichen Erscheinungsweise des eigenen Körpers, ist es im allgemeinen nicht leicht, [42] zu erkennen, daß man sich bereits im Traum befindet. Geübten Personen, die es gelernt haben, während des Einschlafprozesses sehr sorgsam auf alle sinnlichen Eindrücke zu achten, gelingt es aber meist aufgrund irgendwelcher ungewöhnlicher Erscheinungen den Traumzustand zu erkennen und sich dann mit Bewußtseinsklarheit in der inneren Welt frei zu bewegen, während der physische Organismus im Bett liegen bleibt. Bei ungeübten Personen kommt es hingegen eher zum Phänomen des 'falschen Wachbleibens' (...); sie erleben dann beispielsweise, daß sie nicht einschlafen können, aus irgendeinem Grund das Bett verlassen, und entdecken erst nach dem Aufwachen, daß sie sich tatsächlich bereits in einer Traumphase befunden haben. Das Phänomen des falschen Wachbleibens ist dem, in der einschlägigen Literatur häufiger beschriebenen, Erlebnis des 'falschen Erwachens' gegenüberzustellen. Bei diesem Erlebnis, das besonders häufig bei Klarträumen auftritt, wähnt man zu erwachen, obwohl man sich noch im Traumzustand befindet.

2.3.7 Hineingleiten in eine Traumszenerie

Bei den zuvor beschriebenen Techniken befindet sich das Ich zunächst in dem Raum, in dem man sich zu Bett gelegt hat. Es gibt andererseits eine Reihe von Möglichkeiten, während des Einschlafvorgangs in eine völlig andere Szenerie zu gelangen. Bei der folgenden Technik möchte ich, stellvertretend für andere Erscheinungsformen, etwas näher auf physiologische und psychologische Gesetzmäßigkeiten hinweisen, mit denen derartige Phänomene zusammenhängen.

Wenn man beim Einschlafen auf optische Erscheinungen achtet, dann sieht man zuweilen Lichtpunkte, die allmählich Gestalt und Farbe annehmen und sich zu bewegen scheinen; so sieht man etwa eine wandernde Schafherde oder Menschengruppen, bewegte Wolkengebilde oder Schiffe und dergleichen. Diese Erscheinungen beruhen u. a. auf sogenannten entoptischen Vorgängen auf der Netzhaut. Die gleichsinnige Bewegung der Gebilde ist auf Augenbewegungen zurückzuführen; dieser Vorgang ist mit der Bewegung von Nachbildern zu vergleichen, wenn man diese mit dem Blick 'verfolgen' will. Nun kann die Bewegung der, in der Szenerie gesehenen, Objekte in eine gegensinnige Bewegung des Körpers umschlagen, was durch die zusätzliche Vorstellung eines geeigneten Fortbewegungsmittels, wie z. B. eines Kahns, Ballons oder Wagens, in dem man sich befindet, unterstützt werden kann. Daß sich der Körper statt der ihn umgebenden optischen Szenerie zu bewegen scheint, ist auf ein wichtiges Gestaltgesetz der induktiven Bewegung zurückzuführen. Es besagt, daß im Falle, daß zwei Gebilde, die sich relativ zueinander verlagern, bevorzugt dasjenige bewegt erscheint, das von dem anderen umschlossen wird. Man denke in diesem Zusammenhang auch an das Wandern des Monds, der von den Wolken umschlossen erscheint (vgl. Abschn. 1.3). Noch näher liegt der Vergleich mit den Erlebnissen in einem Panoramakino. Dort wird ein Film in der Weise an die Kuppel des Kinos projiziert, daß das Filmgeschehen das gesamte Gesichtsfeld des Beobachters ausfüllt. Dann erlebt der Zuschauer sich plötzlich in das Geschehen hineinversetzt, man fliegt etwa mit einem Flugzeug, das Loopings dreht oder langsam gleitet. Diese Erlebnisse gleichen im übrigen sehr den Flugerlebnissen im Traumzustand.

Zur Erläuterung stützen wir uns auf ein Traumbeispiel einer Psychologiestudentin:

'Heute morgen beim Wieder-Einschlafen, habe ich fahrende Cabrios mit Menschen drin gesehen und ich habe gedacht, wenn ich einer von den Menschen in den Autos wär' könnte ich vielleicht aus dem fahrenden Auto abheben und selbst fahren (gleich fliegen). Und weil ich im Traum wußte, daß ich schon so lange (im Wachzustand) wünsche, im Traum zu fliegen, habe ich bedauert, daß ich nicht in einem der Autos drinsitze, sondern am Straßenrand stehe. Zum Trost habe ich mich mit den Augen und dem Gefühl [43] ganz der Bewegung der schnell fahrenden Autos hingegeben, und plötzlich wurde ich zur Bewegung. Ich hob ab und legte mich flach in die Luft und sah zu meiner Freude, daß ich über den Autos flog … und geriet in eine ungeheuere Freude, weil ich zugleich jede Faser meines Körpers spürte und dabei völlig schwerelos war ... Ich war mir während des ganzen Traums bewußt, daß ich träume, und manchmal schossen Fetzen aus einem Tholey-Artikel (...), mit dessen Anfang ich mich am Tag zuvor beschäftigt hatte, durch den Sinn; und zwar die Aussagen über den Einstieg in den Klartraum: daß man die Aufmerksamkeit sowohl auf das, was sich bewegt, richtet als auch auf sich selbst.'

Da die Bewegung des Körpers beim Einschlafen von den Augenbewegungen abhängt, ist es sogar möglich, den Traumkörper über Blickbewegungen zu steuern. Dies gelingt aber nur in den Halbschlafphasen, in denen sensorische Prozesse auf der Netzhaut noch einen gewissen Einfluß auf die Gestaltung der Traumszenerie haben.

2.3.8 Hineinversetzen in die Traumszenerie

Bildet sich beim Einschlafprozeß eine Traumszenerie, so kommt es auch vor, daß man sich urplötzlich in diese Szenerie hineinversetzt erlebt, ohne, daß man erlebt, auf welche Weise dies geschehen ist. Es ist aber auch möglich, sich in eine in der Traumszenerie gesehene Person, die zunächst 'von außen' als Zuschauer betrachtet wird, hineinzuversetzen, so daß sich das Ichbewußtsein plötzlich in dieser Person befindet. Das Erlebnis hat bis zu einem gewissen Grad Ähnlichkeit mit dem vollkommenen Hineinversetzen eines Skiläufers in einen vorausfahrenden Läufer (vgl. Abschn. 1.9).

Zur Illustration stütze ich mich auf den Bericht eines Künstlers, der gleich in der ersten Nacht, nachdem er von mir etwas über die Techniken des Hineinversetzens gehört hatte, folgendes erlebte. Er achtete auf die optischen Erscheinungen, bis sich eine Szenerie entwickelte, in der sich mehrere Indianer am Meeresstrand befanden. Es gelang ihm, sein Ich in einen Indianerjungen hineinzuversetzen, und aus dessen Auge das Meer zu betrachten. Daraufhin schoß plötzlich sein Ich wieder aus dem Jungen heraus und es schwebte danach über der Szenerie am Meeresstrand. Statt aber jetzt in der Traumwelt irgendwo hinzufliegen, wie es ein geübter Klarträumer getan hätte, kam ihm der Gedanke: 'Es hat nicht geklappt!' Darauf kehrte sein Ich wieder in den im Bett liegenden Körper, von dem er noch irgendetwas zu verspüren glaubte, zurück.

2.3.9 Ergänzende Bemerkungen

Es gibt noch eine Reihe abgewandelter Techniken, um während des Einschlafvorganges eine Reise in die innere Welt zu beginnen. Nach unseren Erfahrungen kann jeder eine solche Reise beginnen, der dazu die innere Bereitschaft und Geduld aufbringt. Wichtig ist es, zunächst einmal viele Erfahrungen über Einschlaferlebnisse zu sammeln, um herauszufinden, welche Techniken sich für einen selbst am besten eignen.

Zu erwähnen ist noch, daß beim Einschlafen nicht nur die beschriebenen Körper- und Gesichtsempfindungen, sondern auch akustische Phänomene, in Form von Geräuschen, Knacken, Stimmen, musikalischen Klängen oder Gesängen - zum Teil von unvergleichlicher Schönheit - auftreten können. Ebenso kündigen manchmal taktile Vibrationserscheinungen Außerkörperliche Erscheinungen an. Abschließend möchte ich noch auf die der Magie entlehnte Spiegel-Technik zur Herbeiführung Außerkörperlicher Erfahrungen, die Klaus Stich in seinem Aufsatz beschreibt, hinweisen. Zur Zeit untersuchen wir eine Reihe anderer im Wachzustand auszuübender Techniken, die sich nach den bisherigen Erfahrungen ebenfalls gut zur Reise in die innere Welt eignen, worüber wir in dieser Zeitschrift noch berichten werden.

[44] 2.4 Außerkörperliche und andere außergewöhnliche Erfahrungen während des Klarträumens

Ähnliche Erscheinungen, wie sie bei den zuvor beschriebenen Techniken dargestellt wurden, können auch während des Klarträumens spontan auftreten oder willentlich hervorgerufen werden. Hier zunächst ein Bericht einer Psychologiestudentin, die eine meiner Klartraumveranstaltungen besucht hatte:

'... Ich erzähle meiner Freundin von Klartraumerfahrungen und von Tholey. Als ich mit ihr in den Hörsaal 6 gehe, ändert sich plötzlich das Geschehen: Ich sehe mich überdeutlich im Bett liegen und weiß jetzt ganz genau, daß ich ein hochgeschlossenes Nachthemd trage (was ich sonst nie trage). Ich spüre jeden Muskel. Dann rede ich mit Tholey. Nur sein Geist ist als kleine Wolke an der Decke zu sehen. Ich sage ihm, daß seine Methoden, um in den Klartraum zu kommen, albern sind . . . Jeder muß seine eigene Methode herausfinden und besonders ich wollte einen Eingriff in meine Träume nicht einfach hinnehmen. Die Wolke an der Decke sagt nichts. Wieder ändert sich der Traum. Das Nachthemd sieht einmal eher wie ein Totenhemd aus . . . Mein Geist denkt: 'Ach, siehst Du, so ist es, wenn man tot ist'; und damit spüre ich, wie mein Geist aus meinem Körper heraustritt und ganz leicht 'wolkenähnlich' über eine wunderschöne grüne Wiese schwebt, die sich immer mehr in ein Van-Gogh-ähnliches Bild verwandelt. Der Traum endet in einem wunderschönen seligen Zustand.'

Interessant an diesem Beispiel ist die Tatsache, daß die Träumerin nicht nur sich selbst als Geist, sondern eine andere Traumgestalt als Wolke erlebte. Der von mir geprägte Ausdruck 'Ich-Wolke' war ihr bei diesem Erlebnis übrigens noch nicht bekannt.

Das folgende Beispiel einer 16 jährigen Schülerin (die den Bericht in der vorliegenden Fassung aber erst als Studentin verfaßt hat) ist noch eindrucksvoller.

Das Mädchen war in einen Jungen verliebt, der sich ihm gegenüber zwar freundlich und nett, aber gleichzeitig auch reserviert verhielt. Vor dem Einschlafen beschäftigt sich das Mädchen mit dem Gedanken, warum der Junge nicht näher auf es einging. Es hatte in der Nacht folgenden Traum:

'Ich befand mich mit dem Jungen zusammen in einem Raum. Wir waren beide mit irgendeiner Tätigkeit beschäftigt, an die ich mich nicht mehr erinnere, jedenfalls waren wir dabei in ein Gespräch vertieft. Auf einmal wurde mir klar, daß ich träume. Wieder fragte ich mich, warum er meine Gefühle nicht erwidert, und wollte jetzt in dieser Traumsituation Antwort auf diese Frage haben. Da merkte ich, wie sich mein Geist, d.h. das, was ich als 'Ich' bezeichne, aus meinem Körper löste und hinüber zu seinem Körper schwebte und in diesen eindrang. In diesem körperlosen Zustand konnte ich mich mit allen Sinnen orientieren, d.h. sehen, hören, fühlen usw. Als ich aus meinem Körper austrat, sah ich ihn einfach weiter da stehen, an etwas rumbasteln und reden. Man merkte also meinem Körper von außen nicht an, daß ich da nicht mehr drin war. Ich schwebte also zu dem Jungen hinüber und drang in seinen Körper ein, wobei ich das Gefühl hatte, alle seine Körperfunktionen zu übemehmen, ohne daß ihm das zu Bewußtsein kam. Ich übernahm also seine Vitalfunktionen und seine Motorik und alles, was eben zu einem Körper gehört. Die erste Zeit war das ein recht eigenartiges Gefühl, alles war so anders und auch räumlich enger als in meinem Körper und so ungewohnt. Es war ungefähr so, als ob man jahrelang immer einen Mercedes gefahren hat und dieses Auto voll beherrscht und plötzlich auf einen Austin Mini umsteigt. Aber dieses Gefühl wurde um so schwächer, je länger ich in diesem Körper war und je besser ich mit ihm umgehen konnte. Ich sah mit seinen Augen, fühlte mit seinen Händen, redete mit seiner Stimme usw. Ich sah auch durch seine Augen meinen Körper da drüben stehen und irgendwie agieren. Und ich sah ihn eigentlich denken, ohne daß ich mich erinnern könnte, wie ich zu diesem Eindruck kam. Ich beobachtete also seine Gedankengänge und seine Handlungen, ohne aber in diese einzugrei- [45] fen, denn der Junge wußte ja wie gesagt nicht, daß ich jetzt quasi mit ihm zusammen in einem Körper steckte. Ich war also passiver Beobachter. Ich sah, wie er mich wahrnahm, wie ich auf ihn wirkte und was er mir gegenüber für Gefühle hatte. Ich sah, in welchem Zwiespalt er steckte, denn er hatte wohl gemerkt, was ich für ihn empfand, und er mochte mich auch gerne, aber wollte eben kein Verhältnis mit mir anfangen. Als ich diese Gedanken beobachtete und mich durch seine Augen gesehen hatte, wußte ich, warum er mir gegenüber so zurückhaltend blieb, und es wurde mir klar, daß er meine Gefühle nie erwidern würde. Ich wußte ganz genau, was er dachte und warum er es dachte. An dieser Stelle erwachte ich aus dem Traum.'

Für das Mädchen war dieser Traum sehr wichtig und hilfreich, weil er Ordnung in seine Gefühle brachte. Es konnte sich jetzt mit einer freundschaftlichen Beziehung zu dem Jungen begnügen, und spürte bei diesem eine gewisse Erleichterung, da die Spannung, die zuvor zwischen den beiden bestanden hatte, nach dem Traum völlig verschwand.

Ich werde auf dieses aufschlußreiche Beispiel später noch einmal hinweisen und dann auch über einen Klartraum berichten, in dem gerade umgekehrt wie hier eine andere Traumgestalt in meinen eigenen Körper hineinschlüpfte.

Bei dem folgenden Beispiel, das von einem Psychologiestudenten stammt, tritt das Ich in verschiedene Traumfiguren ein. Allerdings kommt das Traum-lch erst spät zur Erkenntnis, daß es sich im Traum befindet:

'lch träume, ich bin verheiratet und habe eine Tochter. Zunächst sehe ich das Kind, wie es umhertollt, und bin sehr stolz darauf. Später liege ich (Person A = Träumender) mit meiner Frau (Person B) im Bett. Sie erklärt mir, daß wir uns trennen müßten. Ich bin perplex. Sie geht - und mein Ichbewußtsein ist in diesem Moment in die (Person B) übergegangen. Nach mehreren Erlebnissen komme ich (immer noch Person B) zu dem Schluß, daß ich (Person A) doch nicht so schlecht bin, und entscheide mich (als Person B), zu mir (Person A) zurückzukehren. Ich finde mich (Person A) mit einem fremden Mann (Person C) im Bett und werde unheimlich sauer und eifersüchtig. Ich (Person B) werfe mir (Person A) vor, ein homosexuelles Schwein zu sein. Daraufhin schlüpft das Ichbewußtsein aus Person B in Person C, und ich (jetzt also Person C) erkläre Person B, warum das OK ist, und überzeuge sie. Schließlich liegen wir alle drei im Bett und schlafen miteinander. Ich löse mich aus den drei Personen, als ich nicht mehr entscheiden kann, welche ich jetzt bin, und es kommt mir alles sehr traumhaft vor, und ich erkenne, daß ich schlafe. Ich erkläre den drei Personen daraufhin, daß ich träume und sie Teile von mir sind. Sie drehen sich zu mir um und schauen mich dumm und ungläubig an. Ich überlege noch, wie ich überhaupt sprechen konnte, da ich ja mein Ichbewußtsein nicht mit meinem Körper identifizieren kann, und wache darüber auf.'

Während die zuvor beschriebenen Erlebnisse spontan auftraten, ist es auch möglich, solche und ähnliche Erlebnisse durch Übung absichtlich hervorzurufen. Hier will ich zunächst auf Klartraumerlebnisse des Psychotherapeuten Norbert Sattler eingehen, der auf vielen Gebieten unserer Forschungen produktiv mitgewirkt hat. So hatte Sattler einen Klartraum, in dem er vor einem riesigen Turm stand, zu dessen Spitze er hochblickte. Dabei erlebte er deutlich ein Gefühl der Mächtigkeit, das von dem Turm auf ihn einwirkte. Es kam ihm der Gedanke, daß er doch, weil es sich ja um einen Traum handelte, sein Ich auf die Turmspitze verlagern könne, um von dort herabzublicken. Als er dies zu verwirklichen suchte, glitt er sprunghaft auf dem Blickstrahl zur Turmspitze und blickte jetzt tatsächlich nach unten, wobei ihn sogleich ein Gefühl des Schwindels überkam.

Nun versuchte er mehrfach auf ähnliche Art die Perspektive zu wechseln, was ihm auch gelang, bis er plötzlich oben und unten zugleich zu stehen schien. Dabei erlebte er gleichzeitig das Gefühl der Mächtigkeit des Turms und das eigene Schwindelgefühl.

[46] Als Sattler erfuhr, daß man überhaupt keinen Traumkörper zu besitzen braucht, versuchte er im Klartraum auf 'brutale Art' mit einem Messer, eigene Körperteile abzuschneiden. Zunächst fühlte er Schmerzen, als die Schneide des Messers seinen Körper berührte; er sagte sich aber dann, daß dies ja durch sein Wissen von Schmerzerfahrungen im Wachzustand bedingt sei. Danach wurden seine Körperteile weniger fest und schmerzunempfindlich, so daß er große Stücke seines Körpers abschneiden konnte. Sein Ich-Kern begann dabei im Körper zu wandern. Ich selbst habe dann danach, systematisch meinen Traum-Körper in verschiedener Weise zerschnitten. Machte ich einen Längschnitt, indem ich mir z. B. den Kopf abschnitt, so konnte sich mein Ich-Kern danach ebenso im Kopf befinden, aber in anderen Fällen auch im Unterkörper oder es enstand ein körperloser Ich-Punkt. Zerschnitt ich den Körper über den Scheitel in zwei Hälten, traten manchmal zwei Ichs auf, wobei sich dann wieder zwei vollständige Körper entwickeln konnten. Zum Zeitpunkt, als wir diese Experimente durchführten, wußten wir noch nichts davon, daß die Zerstückelung des eigenen 'Körpers' bei den Schamanen, die übrigens viele als die eigentlichen Pioniere der Bewußtseinsforschung betrachten, eine große Rolle spielt. Es braucht wohl kaum betont zu werden, daß wir trotz der Ähnlichkeit der Techniken das Weltbild der Schamanen, die ja an eine echte Zerstückelung ihres Körpers glauben, nicht teilen.

Das Traum-Ich kann seine Gestalt aber auch ohne solche 'brutalen' Eingriffe willentlich ändern, indem es sich z. B. vom Erwachsenen in ein Kind oder vom Menschen in ein mythologisches, tierisches oder pflanzliches Wesen zu verwandeln mag. Dies erfordert im allgemeinen viel Übung, wobei besondere Manipulationstechniken hilfreich sein können (...). Es ist also nicht etwa so wie bei den Tagträumen, in denen man ohne große Schwierigkeiten seine Phantasiegebilde willkürlich gestalten kann. Heinrich Kern (1981), der sich ebenfalls der Frage der Manipulationsmöglichkeiten von Klarträumen gewidmet hat, beschreibt, daß er sogar mit einem Flugzeug eins wurde, dessen Tragflächen deutlich die Luftströmung spürten. Schließlich ist es auch möglich mit dem gesamten Kosmos eins zu werden und sich dabei zu verlieren (vgl. 1.7).

Es ließe sich noch eine große Zahl weiterer Erlebnisse beschreiben, die für diejenigen, die sich in der inneren Welt nicht auskennen, nur schwer vorstellbar sind (wie z. B. das Erleben eines vierdimensionalen Raums) oder beschreibbar sind. Meines Erachtens wäre es sinnvoll, zumindest für die Gemeinschaft derjenigen, die sich auf innere Reisen begeben, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Aber auch Personen, die häufig in die innere Welt reisen, können nur dann die Vielfalt der Erlebnismöglichkeiten verwirklichen und nutzen, wenn sie sich von einer Reihe von Vorurteilen und, was noch wichtiger ist, von seelischen Widerständen befreit haben.

2.5 Zur Interpretation Außerkörperlicher Erfahrungen im Schlafzustand

Zunächst sei vorab gesagt, daß die mir mitgeteilten Berichte über Außerkörperliche Erfahrungen mit dem eingangs geschilderten kritischrealistischen Weltbild im Einklang stehen. Allerdings berichtete eine Psychologin, daß sie im Außerkörperlichen Zustand von ihrem Schlafzimmer in ein anderes Zimmer geflogen wäre und dort Ausschnitte aus einer Femsehsendung gesehen hätte. Sie bekam am anderen Tag von ihren Eltem, die sich diese Femsehsendung angeschaut hatten, bestätigt, daß ihre Aussagen über den Inhalt der ausgestrahlten (zuvor nicht angekündigten) Sendung tatsächlich stimmten. Wir hatten aber schon in Abschnitt 1.7 bei der Besprechung der holographischen Feldtheorie ausdrücklich darauf hingewiesen, daß solche Sachverhalte kein Beleg für die okkultistische Annahme ist, daß bei Außerkörperlichen Erfahrungen, ein Astralkörper den physischen Körper verläßt. Aus kritisch-realistischer Sicht verläßt [47] in einem solchen Fall nur ein als feinstofflich erlebter Körper den als physisch erlebten Körper. All dies geschieht in dem Kopf des physischen Organismus. Nach gestalttheoretischer Auffassung sind alle Erlebnisvorgänge mit den bewußten Prozessen im Hirnfeld identisch. Aber diese stehen ja in sehr verwickelten Wechselwirkungsverhältnissen mit anderen inner- und außerorganismischen Vorgängen, wobei als Schwierigkeit hinzukommt, daß Außerkörperliche Erfahrungen in Zuständen auftreten, in denen sehr unterschiedliche systemtheoretische Zusammenhänge im Gesamtorganismus vorliegen.

Alle unsere Ergebnisse stehen auch im Einklang mit der Auffassung, daß Außerkörperliche Erfahrungen im Schlaf nichts anderes als eine besondere Form des Klarträumens sind. Dabei ist es gleichgültig, ob man zu diesen Erfahrungen mittels einer Klarheit bewahrenden Einschlaftechnik oder einer Klarheit gewinnenden Traumtechnik gelangt. Dem naheliegenden Einwand, daß sich Außerkörperliche Erfahrungen erlebnismäßig von gewöhnlichen Klarträumen unterscheiden, ist zu entgegnen, daß es einerseits verschiedene Mischformen zwischen Außerkörperlichen Erfahrungen und gewöhnlichen Klarträumen gibt, und daß es außerdem möglich ist, innerhalb gewisser Grenzen willentlich von einer dieser Erlebnisforrnen in die andere überzugehen. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, auf eine von meiner Begriffsexplikation abweichende Definition Außerkörperlicher Erfahrungen einzugehen. Während ich mich bei meinem Definitionskriterium nur auf den unmittelbar angetroffenen phänomenalen Sachverhalt beziehe, daß sich das Ich (sei dieses mit einem Zweitkörper versehen oder nicht) außerhalb des als physisch erlebten Körpers befindet, stützt sich LaBerge (1985) auf ein zweites Kriterium, das zusätzlich die subjektive Interpretation dieses phänomenalen Sachverhalts miteinbezieht. Er spricht nur dann von einer Außerkörperlichen Erfahrung einer Person, wenn diese glaubt, mit ihrem Ich, ihrer Seele, ihrem Astralkörper oder was sonst auch immer tatsächlich den physischen Körper verlassen zu haben. Vom Standpunkt seiner Definition aus, die eine gewisse Berechtigung darin findet, daß die spezielle subjektive Interpretation des betreffenden Sachverhalts einen großen Einfluß auf das gesamte Erleben und Verhalten der Person ausübt, betrachtet er Außerkörperliche Erfahrungen bloß als eine minderwertige Form des Klarträumens. Aus der Sicht seiner Definition können wir hierin LaBerge zustimmen, weil nach unserer kritischrealistischen Auffassung der Glaube, daß bei Außerkörperlichen Erlebnissen etwas den physischen Körper verläßt, ein Irrglaube ist. Allerdings halten wir es für sinnvoller, sich bei Definitionen außergewöhnlicher Erfahrungen zunächst nur auf die unmittelbar angetroffenen Sachverhalte zu beziehen, um diese Definitionen nicht von vorneherein zu sehr mit erkenntnistheoretischen Annahmen zu belasten, sondern diese unabhängig von begrifflichen Bestimmungen zu diskutieren (...).

Auf die Nachteile und Gefahren okkultistischer Deutungen Außerkörperlicher Erfahrungen haben wir schon im Abschnitt 2.1 hingewiesen. Meines Erachtens hat die okkultische Lehre von der Astralprojektion entscheidend dazu beigetragen, die Erlebnismöglichkeiten in der inneren Welt einzuschränken. So glaube ich, daß diese Lehre dafür mitverantwortlich ist, daß man bei Austrittserlebnissen häufig einen dem Wachkörper gleichgestalteten Zweitkörper erlebt. Befreit man sich von okkultistischen und anderen Vorurteilen, läßt sich der Körper relativ leicht verwandeln oder auflösen, wie es beschrieben wurde. Durch solche Erfahrungen gewinnt man übrigens ein vollkommen neues Verhältnis zu seinem Wachkörper, was für die Entfaltung der Persönlichkeit als leib-seelischer Ganzheit äußerst wichtig ist.

Sehr stark wird die Freiheit in der inneren Welt auch durch affektive Zwänge, die meist auf unbewußte Konflikte zurückgehen, eingeengt. Es sind die gleichen Zwänge, die uns im Wachleben die schöpferische Freiheit im Denken und Handeln rauben. Doch bietet gerade die Reise in [48] die innere Welt eine wichtige Hilfe für die Bewußtmachung und Befreiung von diesen Zwängen, worauf wir in Teil 3 eingehen werden.

TEIL 3: DIE REISE IN DIE INNERE WELT ALS WEG ZUR SCHÖPFERISCHEN FREIHEIT

3.1 Hindernisse auf dem Weg zur schöpferischen Freiheit

Auf der Grundlage des feldtheoretischen Modells der Gestalttherorie kann sich ein Kind unter günstigen Erziehungsbedingungen zu einer harmonischen Persönlichkeit entwickeln, die von sich aus bestrebt ist, in schöpferischer Freiheit sinnvoll in der mitmenschlichen Gemeinschaft zu wirken. Wie dies im einzelnen zu verstehen ist, und weswegen diese Möglichkeit in unserem Kulturkreis kaum verwirklicht wird, kann hier nur angedeutet werden. Wir verweisen auf das leichtverständliche und zugleich tiefgreifende Werk von Wolfgang Metzger über 'Schöpferische Freiheit' (1962).

Metzger gibt die Hauptschuld unserem Erziehungssystem, das die inneren Kräfte der Persönlichkeit nicht fördert, sondern durch Gebote und Sanktionen unterdrückt. Da sich ein Kind nicht gegen die äußeren Zwänge wehren kann, übernimmt es diese zur Bewahrung seines Ichs, so daß sie zu inneren Zwängen seiner Persönlichkeit werden. Diese verhindern nun ein freies Kräftespiel zwischen den Teilsystemen der Persönlichkeit, die für eine harmonische Persönlichkeitsentfaltung unentbehrlich sind.

Durch die Übernahme der autoritären Forderungen der Erzieher gesteht sich dann das Kind bestimmte wichtige Grundbedürfnisse nicht mehr ein, sie werden 'verdrängt' oder 'abgespalten', wie es die Tiefenpsychologen ausdrücken. In der Gestalttheorie spricht man von der 'Isolation' eines Teilsystems der Persönlichkeit.

Als Beispiel sei das sog. Aggressionsbedürfnis genannt. Es handelt sich nach gestalttheoretischer Auffassung um ein wichtiges und notweniges Grundbedürfnis zur Auseinandersetzung mit der Welt, das sich unter günstigen Erziehungsbedingungen zu einem konstruktiven Bedürfnis nach geistigem und tätigem Eingriff in die Welt entwickelt. Durch Unterdrückung dieses Bedürfnisses wird es in der Persönlichkeit isoliert, was zumindest einer geistigen Verarmung, aber auch zu einer Wandlung in ein - häufig unbewußtes destruktives Bedürfnis, das gegen sich selbst oder gegen andere gerichtet ist, führen kann. Die Gefahr der Isolation eines Teilsystems der Persönlichkeit besteht darin, daß es durch weitere Unterdrückung immer mehr Energie aufsaugen kann, was schließlich zu einer neurotischen Spaltung der Persönlichkeit führt. Je mehr Druck auf ein Kind ausgeübt wird, um so mehr tritt sein Ich in den Vordergrund, das sich ja zu schützen sucht. Aus der ursprünglichen Selbstschutztendenz entsteht eine immer größere Ausrichtung der gesamten Persönlichkeit auf das Ich. Diese wachsende Ichhaftigkeit ist der Hauptfeind jeglicher schöpferischer Freiheit im Wahrnehmen, Denken und Handeln.

In diesem Zusammenhang ist eine terminologische Anmerkung wichtig. Wenn soeben von dem 'Ich' gesprochen wurde, so war damit ein Teilsystem oder besser Systemgefüge der Persönlichkeit gemeint und nicht das erlebte Ich, von dem es zu unterscheiden ist, obwohl ein Zusammenhang zwischen der Ausrichtung auf das Ich, als Teil der Persönlichkeit, und der Art des erlebten Ichs besteht. Denn je größer die Ausrichtung auf das Ich in der Persönlichkeit wird (bzw. je mehr Teilsysteme der Persönlichkeit vom Ich 'besetzt' oder 'besessen' werden), um so häufiger tritt das Ich auch im Erleben in den Vordergrund, wodurch die schöpferische Freiheit beim Wahrnehmen, Denken und Handeln in extremer Weise beeinträchtigt wird.

Interessant ist, daß der indische Weise Krishnarmurti (1965) ein Buch mit gleichem Titel wie Metzger über 'Schöpferische Freiheit' geschrieben hat, und ähnlich wie Metzger auf die Gefahr der Ichhaftigkeit hinweist, obwohl sich beide Autoren wohl kaum gekannt hatten. Metzger stützt sich auf die Werke von Fritz Künkel sowie im Hinblick auf die Erziehungspraxis auch weit- [49] gehend auf den Zen-Buddhismus. Er weist darauf hin, daß die Zen-Schule 'mit einem erbarmungslosen Großangriff auf die Ichhaftigkeit' ( 1962, S. 185) beginnt, um die Voraussetzung für schöpferisches Handeln zu schaffen.

Dieser Angriff erfolgt über den 'äußerenWeg' der körperlichen Übung und Leistung oder den 'inneren Weg' der unmittelbar zur Kernstruktur der Persönlichkeit führt. Als äußerer Weg ist auch der bereits erwähnte Weg des Kriegers (Bushido) oder Kampfsportlers (Budo) einzustufen. Man beachte, daß der Krieg oder Kampf in erster Linie dem Sieg über das selbstsüchtige Ich gilt. So ist Budo wörtlich als der Weg zum Beenden des Kampfes zu verstehen. Der innere Weg der japanischen Krieger führt über eine bestimmte Form der Meditation, die für unseren Kulturkreis weniger angemessen ist, als der innere Weg des indianischen Kriegers, der 'über eine andere Wirklichkeit' führt, wie es bei Castaneda (1975) heißt. Wenn ich mich hier überhaupt auf die Figur des Kriegers, den es in ähnlicher Form auch in anderen Kulturen gibt, stütze, dann deshalb, weil es dem Krieger letzlich um den Sieg über das selbstsüchtige Ich geht (vgl. hierzu auch Wittmann, 1984).

Die durch die ichhafte Brille betrachtete Welt wird im Buddhismus zu recht als 'Maya', als bloße Traum- oder Scheinwelt bezeichnet, aus der es zu Erwachen gilt, um zur Klarsicht der Welt zu gelangen (wobei wir buddhistische Vorstellungen im Sinne des kritischen Realismus umdeuten). Den Übergang von der egozentrischen Scheinwelt, bei der sich alles um das selbstsüchtige Ich zu drehen scheint, zur sachzentrierten Welt, bei der die Forderungen der Mit- und Umwelt in den Mittelpunkt rücken, kann im Zusammenhang unseres Gedankengangs als dritte Kopernikanische Wende betrachtet werden. Die erste betrifft das physikalische Weltbild (vgl. Abschnitt 1.1), die zweite das erkenntnistheoretische Weltbild (vgl. Abschnitt 1.2 und 1.3), die dritte vollzieht sich innerhalb der Persönlichkeitsstruktur eines Menschen mit tiefgreifenden Auswirkungen auf dessen Erleben und Verhalten.

Wie man über die Bewußtseinsklarheit in der inneren Welt zur Klarsicht oder zum Erwachen in der äußeren Welt und schließlich zur schöpferischen Freiheit der Persönlichkeit gelangen kann, wird im folgenden am Beispiel des inneren Wegs des Kriegers aufgezeigt. Dieser Weg wird in apodiktischer und gleichnishafter Form dargestellt, weil ich glaube, in der hier gebotenen Kürze die dahinter stehenden Grundgedanken auf diese Weise am besten zum Ausdruck zu bringen. Theoretische und empirische Einzelheiten kommen dabei ebenso zu kurz wie praktische Ratschläge (vgl. hierzu Tholey und Utecht, 1987 ...). Daß ich mich bei den einzelnen Beispielen im wesentlichen auf eigene Erfahrungen beziehe, hat seinen Grund ausschließlich darin, daß es mir nicht freigestellt ist, Erlebnisberichte von Personen, die sich dem hier konzipierten Ideal der Kriegerfigur weit mehr genähert haben als ich selbst, zu veröffentlichen.

3.2 Die ersten Schritte in die innere Welt: die Aussöhnung mit bedrohlichen Gestalten

Des Kriegers Weg in die innere Welt ist nicht ein Königsweg am Gängelband eines Psychotherapeuten. Es ist sein eigener Weg, zu dem er auch keiner fremden Mittel, wie Gifte oder Drogen, bedarf. Seine Mittel sind die innere Bereitschaft und die Geduld.

Ein Krieger kümmert sich nicht um die Warnungen von Okkultisten. Er braucht weder eine Silberschnur, um deren Zerreißen er bangt, noch bindet er sich an eine feste Richtschnur, die sein Verhalten beengt, er geht gelöst und gelassen in die innere Welt. Er hält sich auch nicht an die Warnung, nicht in den inneren Spiegel zu sehen, weil er weiß, daß die Maske, die ihm von dort entgegenstarren kann, dazu verhilft, seine eigene Maske im Wachleben abzulegen. Er wagt es auch mit seinem Ich in ihm begegnende Gestalten hineinzuschlüpfen, um mit den Augen dieser Gestalten der Wahrheit über sich selbst ins Auge zu sehen (vgl. den Bericht des 16 jährigen Mädchens in 2.4.). Er fürchtet sich auch nicht vor 'den Hunden des Weltalls', die nach Rudolf [50] Steiner über seine Seele herfallen wollen. Er stellt sich ihnen, wenn sie ihn anfallen, weil er weiß, daß es die 'Hunde des Unbewußten' sind, die sich sein eigenes Ich zu Feinden gemacht hat. Er wird eins mit ihnen oder raubt ihnen zumindest ihre Kräfte (...). Dies wird an einem eigenen Klartraumbeispiel erläutert. Es handelt sich hier übrigens um das angekündigte Beispiel, bei dem eine Traumgestalt in das Traumkörper-lch hineinschlüpft.

' .. . Ich werde vom Tiger verfolgt; ich empfinde Angst. Plötzlich kommt es mir merkwürdig vor, daß es in der hiesigen Gegend Tiger geben solle. Nach einer kurzen Phase des Zweifels kommt mir der Gedanke, daß ich mich im Traum befinden müsse, worauf ich meine Flucht erleichtert fortsetze. Einige Augenblicke später fällt mir ein, daß ich nicht fliehen muß, da mir ja ein Traumtiger gar nichts anhaben kann. Jetzt überlege ich mir, was ich tun soll. Einerseits habe ich Interesse daran, einen angenehmen Flug zu starten, andererseits interessiere ich mich dafür, den Tiger anzusprechen. Also lasse ich ihn an mich herankommen und frage ihn: 'Wer bist du?'. Der Tiger schaut verdutzt und verwandelt sich dann in die Gestalt meines verstorbenen Vaters. Als ich ihn frage, was er wolle, macht er mir mit drohenden Gebärden Vorwürfe der verschiedensten Art. Ich weise zwar einige Vorwürfe als übertrieben zurück, halte andere aber auch für berechtigt und entschließe mich dazu, mein Wachleben entsprechend zu ändern. Im gleichen Augenblick wird mein Vater freundlich und wir reichen uns die Hand zur Aussöhnung. Ich frage ihn, ob er mir helfen könne. Er ermutigt mich, meinen Weg allein zu gehen. Dann schien er meine eigene Gestalt anzunehmen und in mich hineinzuschlüpfen. Ich fühle mich wie erlöst und wache danach auf.'

Diesem Bericht ist nachzuschicken, daß mir mein Vater nach seinem Tod sehr häufig als Alptraumfigur erschienen war, die ich im Kampf besiegte, wobei er sich sogar einmal in eine Mumie verwandelte. Ich hatte bei solchem blind aggressivem Verhalten zwar ein Triumphgefühl, doch dieses war jeweils nur von kurzer Dauer. Das aggressive Verhalten paßt eher zum abendländischen Helden, der das Untier tötet, aber wegen seiner Kurzsichtigkeit nicht begreift, daß diesem neue Köpfe wachsen können, oder ein Rächer auftritt, der ihn von hinten erdolcht. Ein Krieger hingegen raubt sich die Kräfte des Untiers durch die Aussöhnung mit ihm.

Vor aggressivem Verhalten in der inneren Welt sei noch aus anderen Gründen gewarnt. Beim Töten von Taumgestalten tauchen zuweilen starke Angstgefühle auf, die nach dem Aufwachen noch anhalten. Außerdem ist es auch aus ethischen Gründen nicht gerechtfertigt, eine Traumgestalt grundlos anzugreifen, da es möglich ist, daß diese Gestalt ein eigenes Bewußtsein besitzt und deshalb Schmerzen erleben kann, obwohl - oder, wenn man es richtig versteht, gerade weil diese Traumgestalt dem gleichen Hirn entstammt wie das Traum-lch (...).

Bei dem beschriebenen Traum kam übrigens ein typischer Autoritätskonflikt zum Ausdruck, der letztlich auf die Unterdrückung des sog. Aggressionsbedürfnisses aufgrund äußerer und innerer Zwänge zurückgeht, wie es zuvor erläutert wurde. Dieser Traum hatte positive Folgen für mein Traum- und Wachleben. Mein Vater tauchte nie mehr als Alptraumgestalt auf. Ich verlor meine unbegründete Angst vor Autoritäten und trug mutiger das vor, was zu sagen war, obwohl ich mit Drohungen und Sanktionen zu rechnen hatte. Gleichzeitig wuchs umgekehrt auch meine Bereitschaft, ichhafte Interessen, die mein Traumvater aufgedeckt hatte, etwas zurückzustecken, und es wuchs meine Kraft und mein Mut, mehr für die Sache einzutreten. In der psychoanalytischen Theorie würde man sagen, daß meine Ich-Stärke zunahm, aber innerhalb der Individual- und Gestaltpsychologie ist der Mut eine Eigenschaft der Gesamtpersönlichkeit, die gerade aus einer Schwächung des selbstsüchtigen Ichs erwächst. Dieses neigt zu Tollkühnheit, aber nicht zu Mut.

Ich habe gerade dieses Beispiel an den Anfang gestellt, weil häufig zu Beginn des Weges in die innere Welt bedrohlich erscheinende Beziehungspersonen, wie Vater und Mutter auftauchen, mit [51] denen man sich aussöhnen sollte. Nach der Aussöhnung mit einer ursprünglich bedrohlichen Gestalt kommt es übrigens nicht immer zugleich zum Erleben des Einswerdens mit der betreffenden Gestalt wie im beschriebenen Beispiel, sondern es besteht auch die Möglichkeit, daß eine solche Gestalt zunächst zum Verbündeten in der inneren Welt wird, von dem man sich aber später verabschieden kann, wenn man sich stark genug fühlt, seinen Weg allein fortzusetzen.

Ergänzend ist zu sagen, daß man bei der Begegnung mit Traumgestalten nicht nur die Frage stellen sollte: 'Wer bist du?', sondern auch die Frage: 'Wer bin ich?', denn das Traum-Ich verkörpert ja nur einen bestimmten Teil der Persönlichkeit. Mit der Frage: 'Wer bin ich?' beginnt übrigens auch die Grundfrage des Zen-Buddhismus; ihre Beantwortung führt zu einer immer tieferen Einsicht in die Nichtigkeit des selbstsüchtigen Ichs.

3.3 Das Aufsuchen bedrohlicher Gestalten oder Situationen und die Überwindung von Widerständen

Ein Krieger, der durch Aussöhnung mit einigen 'Hunden des Unbewußten' bereits Kräfte gesammelt hat, gewinnt an Mut, andere 'Untiere' in ihren Schlupfwinkeln bewußt aufzuspüren; er trifft sie in der Finsternis, der Unterwelt und der Vergangenheit, wobei er Schritt für Schritt seinen Weg geht. Er begibt sich in der inneren Welt beispielsweise von einer lichten Wiese in den dunklen Wald, von der Oberfläche in eine tiefe Höhle oder von seinem gegenwärtigen Wohnort zurück zum Ort seiner Geburt. Jeder erfolgreiche Schritt, der zur Aussöhnung mit den Mächten der Finsternis, den Gespenstern der Unterwelt oder den Schatten der Vergangenheit endet, ermöglicht es ihm zugleich, in lichtere, höhere und zukunftsträchtigere Bereiche vorzudringen, um von dort - ausgeruht und gestärkt erneut die bedrohlichen Bereiche aufzusuchen und erobern zu können.

Dabei muß der Krieger viele Hindernisse überwinden. Es sind seine eigenen Widerstände, die ihm den Weg zur Wahrheit, die er sich nicht eingestehen will, mit allen Mitteln zu verhindern suchen. Doch hat der Krieger die innere Bereitschaft, der Wahrheit, mag sie zunächst auch noch so erschreckend erscheinen, ins Auge zu sehen, so ist ihm kein Hindernis in der inneren Welt gewachsen. Zur Erläuterung wieder ein eigenes Beispiel:

' ... Nach einem Austrittserlebnis in meinem Elternhaus verfestige ich meinen Körper an der Wand und nehme mir vor, in ein bestimmtes Zimmer dieses Hauses zu gehen, von dem, wie ich von früheren Klartraumerfahrungen wußte, bedrohliche Kräfte auszugehen schienen. Als ich die Schlafzimmertür öffne, versucht der Arm eines Skelettes mir den Weg zu versperren; dazu entschlossen, meinen Weg fortzusetzen, schlage ich ihn entzwei. Doch kurz danach wache ich auf. Aber ich spüre, daß es ein sogenanntes 'falsches Erwachen' (vgl. Abschnitt 2.3.5) ist, das vorgetäuscht wird, um mir die Klarheit über meinen Bewußtseinszustand zu rauben. Als ich aufstehe, um das bedrohliche Zimmer aufzusuchen, kommen vier dunkle Muskelmänner von hinten auf mich zu, um mich zurückzuzerren. Ich sage lachend: 'Was habt ihr euch denn jetzt wieder einfallen lassen? ' Ihren Kräften nachgebend, gehe ich mit ihnen zur anderen Zimmertür hinaus, die zum Balkon führt, von dem aus ich gewöhnlich meine Flugreisen starte. Dann springe ich mit den vier Kerlen den Balkon hinunter, wobei ich ihnen sage: 'Wenn ihr jetzt noch fester an mir herumzerrt, dann werdet ihr unten auf den Steinplatten aufschlagen.' Sie verlieren darauf ihre Kräfte und verschwinden. Mein Körper wird leicht, so daß ich ins Schlafzimmer zurückschweben kann. Dort verfestige ich meinen Körper, um endlich das bedrohliche Zimmer aufzusuchen. Doch in der Nähe des Zimmers werde ich von unsichtbaren Kräften zurückgeschleudert. Auf dem Boden kriechend, schiebe ich mich immer wieder zu dem Zimmer vor und stoße mit voller Kraft die Tür auf. Es ist mir natürlich klar, daß ich mit sehr Unangenehmem konfrontiert werden würde, wenn sich mir solch starke Widerstände [52] in den Weg stellten. Meine Erwartungen werden erfüllt: Das was ich sehe, erschüttert mich und macht mich betroffen, doch es verhilft mir letztlich zu einer für die weitere Entwicklung wichtigen Einsicht.'

Das Beispiel zeigt übrigens, daß man mit zunehmender Erfahrung eine mehr spielerische Einstellung zu den Schreckgespenstem, denen man begegnet, gewinnt. Man nimmt diesen Gespenstem nicht nur die Krait, sondern lernt auch ihre List kennen, die man sich dann selbst zunutze macht. Welche Fähigkeiten und Listen andere Traumgestalten entwickeln können, kann man in einer neueren Arbeit von mir (1989) nachlesen. Man merkt dann erst so recht, welches Potential in der eigenen Persönlichkeit steckt, der diese Gestalten ja 'entspringen', das man sich aber nicht zunutze machen kann, solange man es nicht schafft, sie in die Gesamtpersönlichkeit zu integrieren.

3.4 Die Begegnung mit Marionetten

Geht ein Krieger in der beschriebenen Weise weiter, so erkennt er nicht nur die Ichhaftigkeit der eigenen Person, sondern auch diejenige der anderen Menschen. Er sieht die Welt als absurdes Theater maskenhafter Marionetten, die an den Fäden des eigenen Ichs hängen und nach dessen Willen tanzen. Das Erlebnis der Masken- und Marionettenhaftigkeit der Menschen findet sich übrigens auch in vielen esoterischen Schriften. Es tritt häufig zuerst in der inneren Welt auf, überträgt sich dann aber auf die Sicht der äußeren Welt. Ich will hierzu nur ein eigenes Erlebnis in kurzem Ausschnitt wiedergeben:

' ... Nach einem Austritt aus meinem Körper verfestige ich mich und gehe auf die Straße meiner Heimatstadt, um verschiedene Menschen zu fragen, wer sie seien und wer ich sei. Ich komme auf einen großen Platz, auf dem es nur so von Menschen wimmelt, bekannten und unbekannten. Alle erscheinen maskenhaft, unlebendig und an Fäden gezogen. Am meisten erschüttert es mich, daß auch mir vertraute Personen nur als Larven erscheinen. Ich sehe keinen Sinn darin, diese Marionetten anzusprechen. Stattdessen will ich nach dem Traumregisseur fragen, der diese Figuren an den Fäden zieht. Ich schreie nach oben: 'Wer bist du denn, der das alles inszeniert?' Bei meinem Ruf erstarren alle Figuren und schauen mich mit ihrem maskenhaften Blick an, als habe ich ein Sakrileg begangen. Ich schreie jetzt: 'Komm doch, zeig dich!' Im gleichen Moment werde ich mit großer Wucht auf den Rücken geschmettert und drücke mir mit den eigenen Oberschenkeln so auf die Brust, daß mir die Luft ausbleibt und ich zu ersticken drohe. Da wird mir klar, daß ich es selber bin, der mir den Atem nimmt und mich meiner Lebendigkeit beraube, daß ich nicht anders bin als die anderen, die sich ja auch selbst zu Marionetten gemacht haben. Im gleichen Augenblick löst sich der Druck und ich wache auf.'

Durch die Fähigkeit hinter die eigene Maske (die 'persona' im Sinne von C.G.Jung zu blicken) und damit auch hinter die Masken der Mitmenschen zu blicken, gewinnt man zwar erstaunliche Einsicht in das eigene und fremde [53] Seelenleben, mit dieser Einsicht ist aber zugleich häufig ein Gefühl der Sinnlosigkeit und Einsamkeit verbunden, das bei einigen Personen zu einer schweren Krise führen kann. Doch scheint, zumindest in unserem Kulturkreis, gerade eine solche Krisensituation eine notwendige Voraussetzung für den Durchbruch zum Leben zu sein.

3.5 Die Begegnung mit dem Tod

In schweren Krisen der eben beschriebenen Art begegnet der Krieger in der inneren Welt manchmal dem Tod, der aber seine selbstdestruktiven Tendenzen im Wachleben nicht unterstützt, sondern ihm gerade die Hoffnung gibt, als schöpferischer Mensch und nicht mehr als hölzerne Marionette weiterzuleben. Mir selbst erschien in der Krisensituation ein Totenschädel in Form eines riesigen Gebäudes, dessen Pforte den Weg zu einem goldenen Berg zeigte, von dem ein strahlendes Licht leuchtete. (...) Für mich bedeutete dieses Symbol, daß ich die Krise, in der ich noch steckte, durchstehen mußte, um zur wahren Lebendigkeit zu gelangen. Der Tod erscheint in der inneren Welt häufig auch in personifizierter Form und gilt bei dem indianischen Krieger und Zauberer Don Juan als der weiseste Ratgeber (vgl Castaneda, 1976). Bevor der weitere Weg des Kriegers beschrieben wird, soll jedoch kurz etwas zur Symbolik der inneren Welt bemerkt werden.

3.6 Exkurs: Zur Symbolik der inneren Welt

Nicht alles, was sich in der inneren Welt zeigt, muß etwas symbolisch zum Ausdruck bringen. Ein Krieger lernt aber, symbolische Bereiche aufzusuchen, um dort etwas über sich und seine Situation zu erfahren; er lernt dann auch, diese Symbole zu verstehen und mit ihnen umzugehen. Am deutlichsten zeigt sich die Symbolik in der Dynamik der Auseinandersetzung mit Symbolgestalten. Aufgrund des Ausdrucks, des Verhaltens, der Aussagen und vor allem der Verwandlungen der Symbolgestalten läßt sich am besten erkennen, was sie ausdrücken. Ein Krieger, der nicht in der eigenen Gefühlswelt gefangen ist, also z.B. nicht in der Angst stecken bleibt, kann den Sinn des Smbolgeschehens meist unmittelbar erfühlen. Man lernt die Bedeutung der Symbole nicht durch Lexika kennen, sondern dadurch, daß man sich mit klarem Bewußtsein in die Welt begibt, in der die Symbolsprache gesprochen wird. Ähnlich wie man ja auch eine Fremdsprache nicht durch ein Lexikon, in dem die Wörter aus ihrem Sinnzusammenhang gerissen werden, erlernt, sondern dadurch, daß man sich in das Land begibt, in dem diese Sprache gesprochen wird. Dies bedeutet letztlich, daß sich Symbole nur ganzheitlich, von der inneren und äußeren Gesamtsituation aus gesehen, verstehen lassen

In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, daß nach der gestalttheroretischen Auffassung Symbole sowohl kausal (wie bei Freud) als auch final (wie bei Adler) interpretiert werden können, daß aber ihre in die Zukunft gerichtete lebenspraktische Botschaft wichtiger ist als ihre kausale Erklärung. So erfühlte ich unmittelbar den Sinn der Botschaft. die mir das Bild des Totenschädels, der den Weg zum Licht zeigte, vermitteln sollte. Daß ich später erfuhr, daß ähnliche Symbole kausal auf (körperliche) Geburtsstadien zurückgeführt werden (vgl. Grof, 1985) bedeutete mir ebenso wenig wie die Tatsache, daß sie in der Esoterik auch als Zeichen der Wiedergeburt der Seele oder als Ankündigung eines lichteren Zeitalters verstanden werden.

Daß Symbole bereits in die Zukunft weisen, ist hier nicht im Sinne von Prophetie mißzuverstehen, sondern auf zielgerichtete Gestalttendenzen zurückzuführen, die der Selbstheilung und Selbstentfaltung dienen. Diese Gestalttendenzen können sich in der inneren Welt, die ja kaum an äußere Sinnesreize gebunden ist, besonders stark auswirken. Deshalb sind innerhalb der Symbolik manchmal bereits Ziele verwirklicht, die es in der äußeren Welt erst zu erreichen gilt.

In gewisser Hinsicht besteht hier eine Ähnlichkeit zur Symboltheorie von C.G. Jung, der [54] zwar die kausale Determiniertheit der Symbole nicht leugnet, aber ihrer 'prospektiven', d. h. vorausschauenden, Funktion das Hauptgewicht zumißt. Aber auf der anderen Seite deutet Jung nach gestalttheoretischer Auffassung viele Symbole allzu einseitig als archetypische Bilder, deren Entstehung er auf ererbte Strukturen zurückführt. In einer differenzierten experimentalpsychologischen Studie über 'Symbolschöpfung und Symbolerfassung' (1965) zeigte Shulamith Kreitker, daß sich Symbole im allgemeinen allmählich entfalten, und nicht als vererbte oder platonische Strukturen von vornherein vorhanden sind. Die auffallende Ähnlichkeit dieser Symbole in verschiedenen Kulturen wird aus gestalttheoretischer Sicht auf die Ähnlichkeit der Situationen, mit denen fast jeder in seinem Leben konfrontiert wird, zurückgeführt. Es handelt sich bei den betreffenden Bildern - man denke etwa an Mandalafiguren - häufig um prägnante komplexe Gestalten von großer Dynamik und Ausdruckskraft. Diese Bilder zeigen oft gegensätzliche Teilgestalten, deren Gegensatz aber in einer harmonischen Gesamtgestalt 'aufgehoben' wird, wobei das Wort 'Aufheben' im dreifachen Sinn von Hegel verstanden werden kann: als Negieren, Bewahren und Erhöhen. Interessant ist, daß sowohl die Lösung von Konflikten oder Lebensproblemen, als auch die Lösung gedanklicher Probleme häufig mit einer Aufhebung scheinbarer Gegensätze oder Widersprüche verbunden ist. Man betrachte als Beispiel für den ersten Fall wiederum das Bild des Totenschädels, im dem der Gegensatz von Tod und Leben, bzw. von Schatten und Licht aufgehoben wurde. Als Beispiel für den zweiten Fall kann man sich auf die Aufhebung des scheinbaren Widerspruchs bei dem eingangs beschriebenen Schlüsselerlebnis, das zu meiner erkenntnistheoretischen Wende führte, beziehen.

3.7 Die Wiedergeburt des Kriegers

Widersteht ein Krieger den selbstdestruktiven Tendenzen der Krise, die vom selbstsüchtigen Ich her stammen, so wird dieses Ich allmählich sterben, und er wird selbst als lebendiger Mensch wiedergeboren. Er wird fähig, klarer und freier wahrzunehmen, zu denken und zu handeln. Er sieht dann auch, daß die anderen Menschen nicht nur Marionetten sind, sondern den Keim des Lebens in sich tragen, zu dessen Wachstum er selbst beitragen kann. In den Klarträumen stellen sich dann manchmal Kosmische Erlebnisse ein, die zumeist mit dem Gefühl der Hingabe und Religiösität, d.h. der Rückverbundenheit von Allem in Einem gepaart sind. Wie man das Klarträumen als eine Höherentwicklung des gewöhnlichen Träumens betrachten kann, so kann man auch die Kosmischen Erlebnisse als Höherentwicklung der üblichen Klarträume sehen (...). Zugleich können Kosmische Erlebnisse wiederum zur Höherentwicklung der Persönlichkeit im Sinne der Enfaltung zur schöpferischer Freiheit beitragen. Meines Erachtens ist dies, zumindest in unserem Zivilisationskreis, am ehesten über den Weg durch die Krise, der zur Befreiung von der Ichhaftigkeit führt, zu erreichen.

Van Eersel (1986) weist darauf hin, daß viele erst beim Sterben durch die schwarze Quelle (La source noire, 1986) des Todes zum klaren Licht des Lebens kommen, liegt es dann nicht nahe, diese schwarze Quelle des Lichts bereits vor dem leiblichen Tod in der inneren Welt aufzusuchen, so wie es der Krieger tut?

Hier mag die Frage der tatsächlichen Wiedergeburt oder Reinkamation auftauchen. Der indische Weise Krishnamurti sagt dazu: 'Was reinkarniert denn? Ein Bündel toter Erinnerungen, die wir Selbst nennen? Wenn es nichts gibt, das reinkarniert, wie kann es dann Reinkarnation geben?' Der tibetanische Weise, der Dalai Lama, sagt hingegen, daß das, was reinkarniert, die Person, das Selbst, das Ich ist' (Kakuschka, 1984, 60). Ein Krieger geht nicht den Weg der Weisen, die sich um 'tote' Fragen kümmem. Er geht den Weg der Lebendigen und kümmert sich um die, die wie er lebendig sind oder lebendig werden. (wz Reinkarnation betrifft nicht die Ichhaftigkeit bzw. Egohaftigkeit, d.h. eine inhaltsbefrachtete BK, sondern die BK 0/0 !)

[55] 3.8 Die konspirative Gemeinschaft der Krieger

Ein Krieger, der zur inneren Freiheit gelangt ist, hat die vollständige Freiheit nicht erreicht. Dazu bedarf es auch einer freien mitmenschlichen Gemeinschaft. Sobald er erkennt, daß die Freiheit der Gemeinschait durch die Ichhaftigkeit ihrer Mitglieder beeinträchtigt wird, ist er von sich aus bestrebt, den anderen zur inneren Freiheit zu verhelfen, um damit auch die äußere Freiheit wachsen zu lassen. Ein Krieger versucht also, über die innere Evolution des Bewußtseins seiner Mitmenschen zur vollständigen Freiheit zu gelangen, und nicht über die Revolution innerlich und äußerlich unfreier Massen, die, im Gegensatz zu ihrem Ziel, die Unfreiheit nur vergrößert. Ein Krieger geht also nicht den Weg des Mönches in die Einsamkeit, er lebt in zwei Welten und weist seinen Mitmenschen den Weg zur inneren Freiheit, den aber jeder allein gehen muß. Aber wenn viele diesen Weg gehen, entsteht eine Konspiration (...), d.h. ein Zusammenatmen der Krieger, die zwar äußerlich getrennt, aber innerlich vereint, die Freiheit einatmen.

In ähnlicher Weise wie die individuelle Krise zur inneren Freiheit führen kann, wenn ein Individuum seinen selbstdestruktiven Kräften nicht unterliegt, so kann auch die kollektive Krise unserer heutigen Gesellschaft zur äußeren Freiheit führen, wenn die Gesellschaft ihre verselbständigten Zerstörungskräfte überwindet.

Meines Erachtens ist die durch die kollektive Krisensituation unserer Zeit begünstigte Konspiration der Krieger nicht zu unterbinden, sie bedarf keines Versammlungsorts, sie geschieht im Schlaf, sie ist aber gefährlicher als alle verlogenen Ideologien und Waffen, mit denen man den ideologisch verbrämten Selbstbetrug zu schützen sucht.

Da im Namen eines Kriegers noch nie ein Krieg geführt wurde, konspiriert dieser bis zum letzten Atemzug. Er lebt und atmet gerne, doch er fürchtet nicht den Tod; denn das, was in ihm den Tod gefürchtet hat, ist längst gestorben.

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